Eine überfällige Entdeckung
Sir Edward Feathers verkörpert das Idealbild eines britischen Gentleman alter Schule. Ein Leben in den exotischen Weiten des British Empire hat ihn gehärtet, seine Prinzipien gefestigt, ihn ein wenig exzentrisch werden lassen. Nach Jahrzehnten in führender Position sind ihm Distanziertheit, kühle Souveränität und nüchterner Skeptizismus, die arrogant wirken können, zur Natur geworden; dazu intelligenter Charme. Noch im hohen Alter pflegt er sein Äußeres, welches so makellos erstrahlt, wie seine Umgangsformen stilsicher sind.
Bis zum Ende der Kronkolonie Hongkong im Jahr 1997 war Sir Edward Feathers dort Kronanwalt und Richter. Hoch geschätzt führten er und seine Frau Betty über viele Jahre ein privilegiertes Leben in Upper-Class-Kreisen. Ihre Kinderlosigkeit war gewollt, denn »wenn man als Kind nicht geliebt wird, kann man später kein Kind lieben«. Die Ehe schien perfekt, getragen von gegenseitiger Einfühlung und Respekt, wenn auch arm an Leidenschaft. Die fand Betty bei einem anderen Mann – ausgerechnet bei Terry Veneering, einem arroganten, zynischen, großmäuligen Emporkömmling und bestgehasstem Kontrahenten ihres Gatten bei Gericht.
Seit sich Edward Feathers im Ruhestand befindet, hat sich das Ehepaar nach Dorset an Englands Südwestküste zurückgezogen. Um das versteckt liegende Landhaus mit großem Garten kümmert sich Personal. Gesellschaftliche Verpflichtungen haben sie keine mehr. Die beiden Herrschaften »konzentrierten sich auf ihre Zufriedenheit und auf das Gefühl, in ihrem erfolgreichen Leben geborgen zu sein«.
In dieser friedlichen Ausgangslage beginnt Jane Gardams Roman. Doch schon bald ereilt Betty ein unerwarteter Tod. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um die Reliquie ihrer Eskapade, eine Kette aus »Schandperlen«, die Terry ihr einst geschenkt hatte, im Tulpenbeet zu vergraben.
Plötzlich seiner wichtigsten Stütze beraubt, kollabiert Sir Edwards sorgsam errichtetes Seelengerüst: »er weinte«. Auf einmal holt ihn ein, was er Zeit seines Lebens zu »vergessen geübt« hatte, was »äußerliche Abgeklärtheit«, Selbstdisziplin und Unnahbarkeit auch vor ihm selbst verbargen. Nach einiger Zeit des Nachdenkens (»Es war alles nichtig. Ich bin alt, vergessen und sterbe allein.«) bricht er zu einer wagemutigen Tour de Force im Auto auf. Sie führt den des Selbstfahrens längst entwöhnten alten Herrn auf abenteuerlichen Pfaden zu den frühesten Stationen seines wechselvollen Lebens. Während wir ihn lesend begleiten, ersteht das subtile Porträt eines ungewöhnlichen Mannes, der in seiner letzten Lebensphase »an sich selbst zu rütteln« beschließt und sich seiner Vergangenheit und einem wohl gehüteten, dunklen Geheimnis stellt.
Edward wurde 1922 in der Kolonie British-Malaya geboren. Seine Mutter stirbt am Kindbettfieber. Sein Vater Alistair, ein hoher kolonialer Verwaltungsbeamter, von Kriegstraumata gezeichnet, interessiert sich nicht für seinen Sohn. Das Kind wächst deshalb in der malayischen Familie seiner Amme auf. Nie wieder wird er so viel Liebe und Nestwärme erhalten wie hier in seinen ersten viereinhalb Lebensjahren.
Dann überzeugt eine Abgesandte der Baptistenmission Vater Alistair, dass der Knabe nun endlich einer christlich-europäischen Erziehung zugeführt werden müsse, wenn er nicht als verkümmerter Wilder enden soll. Sie holt den kleinen Jungen aus dem schmuddeligen Hüttendorf in die Mission, damit er Englisch lernt und sein Stottern ablegt, dann wird er einer Pflegefamilie in Wales anvertraut, bis er mit acht Jahren in die Internate des elitären Privatschulsystems eintritt. Ein lieblos übergebenes Silberdöschen aus dem Besitz seiner Mutter ist sein einziger Begleiter.
Edwards trostlose Kindheit und Jugend ist kein Einzelschicksal. Zahlreiche höhere Beamte und Offiziere im britischen Außendienst wollten auf keinen Fall, dass ihr neugeborener Nachwuchs dem ungesunden Klima und den politischen Gefahren der fernöstlichen Kolonien ausgesetzt würde. Lieber verfrachtete man die Kleinen zurück nach Großbritannien und brachte sie bei Verwandten oder fremden Ersatzfamilien unter. Diese waren vielfach auf das geringe Zubrot angewiesen, mit dem man ihnen ihre Dienste entgalt, und trieben so wenig Aufwand wie möglich. Willkür, Mangel an Zuwendung, körperliche Vernachlässigung und grausame Bestrafungen waren offenbar eher die Regel als die Ausnahme und hinterließen lebenslange Spuren bei den Kindern.
Das bekannteste unter diesen Raj orphans war Rudyard Kipling. Dessen autobiografischer Roman »Something of Myself« hat die englische Autorin Jane Gardam zu ihrem Roman inspiriert, den sie »den Raj-Waisen und ihren Kindern« widmet.
Edward Feathers resümiert am Ende: »Mein ganzes Leben lang, seit ich ein kleines Kind war, wurde ich verlassen oder im Stich gelassen oder durch den Tod von den Menschen getrennt, die ich geliebt habe oder denen ich wichtig war.« Emotionale Heimatlosigkeit und Entbehrung prägten seinen Charakter, seine Lebensart, seine Gleichgültigkeit gegenüber den von ihm Verurteilten. So überaus erfolgreich er seine akademische Ausbildung und Karriere als Jurist absolvierte, so glänzend es ihm gelang, sich zu einem »untadeligen Mann« zu formen, so schrecklich unterentwickelt blieben seine emotionalen Fähigkeiten.
Das Konfliktpotenzial in seiner Persönlichkeit manifestiert sich in dem Spitznamen, mit dem ihn seine Kollegen in Hongkong bedacht hatten (und der im gesamten Roman für ihn verwendet wird, als sei es sein wahrer Eigenname). »Filth« ist ein Akronym für das Bonmot »Failed In London Try Hong Kong«, eine abfällige Anspielung auf Hongkong-Briten. Das Wort hat aber auch die eigenständige Bedeutung »Schmutz, Dreck, Schund«. Was andere als kesse Ironie empfanden, war für Feathers gar keine Beleidigung, sondern traf sein wahres Ich. Denn er hatte sich zeitlebens schmutzig gefühlt, befleckt von einer Schuld, die ihn stets bedrückt hat. Der so perfekt auftretende Gentleman trug keine makellose Weste.
Die englische Autorin Jane Gardam, 1928 geboren, ist im deutschen Sprachraum unbegreiflicherweise unbekannt geblieben, obwohl sie in ihrer Heimat seit langem hoch gelobt und geehrt wird (zum Beispiel als Fellow der Royal Society of Literature). Ihr ausgeglichener, subtiler Stil und ihre erzählerische Kraft erinnern britische Kritiker an literarische Größen wie Jane Austen, Katherine Mansfield und Alice Munroe. Jetzt hat sich der Hanser-Verlag ihrer Roman-Trilogie um »Old Filth« angenommen (siehe Zusammenstellung unten) und den ersten Teil in der wunderbaren Übersetzung von Isabel Bogdan herausgegeben. (Der zweite Teil ist für Mai 2016 angekündigt.)
Jane Gardam verwebt in diesem Roman mehrere Fäden auf literarisch eindrucksvolle Weise zu einem zarten Geflecht. In einem souverän komponierten Erzählfluss aus Feathers' Erlebnissen und Schicksalsschlägen in zahlreichen Zeitphasen, seinen Reflexionen und Tagträumen kehren die verdrängten Vorgänge langsam, aber unaufhaltsam und schließlich mit geballter Wucht wieder. Die Autorin führt aber ihren Protagonisten, der sich selbst demaskiert, nicht etwa vor, sondern zeichnet ihre Charaktere feinfühlig und respektvoll nach bester britischer Tradition. In leiser, unterhaltsamer Leichtigkeit wechseln witzige Episoden (etwa Feathers' Autofahrt), amüsant ironisierte Milieus (bei Gericht; Tee mit Queen Mary; Landleben in Dorset) und tief traurige Szenen.
Mag einem der Roman anfangs so aus der Zeit gefallen vorkommen wie sein Protagonist (ein »Quastenflosser«), so ist man Feathers (»Die Frauen waren verrückt nach ihm.«) und der spät entdeckten großen englischen Literatin am Ende mit Haut und Haaren erlegen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2015 aufgenommen.
Die Old-Filth-Trilogie:
• »Old Filth (Old Filth Trilogy 1)« (2004) | »Ein untadeliger Mann« (Übersetzung: Isabel Bogdan)
• »The Man in the Wooden Hat (Old Filth Trilogy 2)« (2009) | »Eine treue Frau« (Mai 2016) (Übersetzung: Isabel Bogdan)
• »Last Friends (Old Filth Trilogy 3)« (2013)
Englische Sammelausgabe: »Jane Gardam's Old Filth Trilogy Boxed Set«