Rezension zu »Ein untadeliger Mann« von Jane Gardam

Ein untadeliger Mann

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 352 S. · ISBN 9783446249240
Sprache: de · Herkunft: gb

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Eine überfällige Entdeckung

Rezension vom 12.12.2015 · 38 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Sir Edward Feathers ver­kör­pert das Ideal­bild ei­nes briti­schen Gentle­man alter Schule. Ein Le­ben in den exoti­schen Weiten des British Em­pire hat ihn ge­härtet, seine Prinzi­pien ge­fes­tigt, ihn ein we­nig ex­zentrisch werden las­sen. Nach Jahrzehn­ten in füh­ren­der Position sind ihm Distan­ziert­heit, kühle Sou­ve­ränität und nüchterner Skeptizismus, die arrogant wirken kön­nen, zur Na­tur ge­wor­den; dazu intelligenter Charme. Noch im ho­hen Alter pflegt er sein Äußeres, wel­ches so makellos erstrahlt, wie seine Um­gangs­formen stil­sicher sind.

Bis zum Ende der Kronkolonie Hongkong im Jahr 1997 war Sir Ed­ward Feathers dort Kronanwalt und Richter. Hoch ge­schätzt führ­ten er und seine Frau Betty über viele Jahre ein privile­giertes Leben in Upper-Class-Krei­sen. Ihre Kinder­losig­keit war ge­wollt, denn »wenn man als Kind nicht ge­liebt wird, kann man später kein Kind lieben«. Die Ehe schien perfekt, ge­tragen von gegenseiti­ger Einfühlung und Respekt, wenn auch arm an Lei­denschaft. Die fand Betty bei einem ande­ren Mann – aus­gerechnet bei Terry Ve­neering, einem arro­ganten, zy­ni­schen, groß­mäuligen Empor­kömmling und bestge­hass­tem Kontrahen­ten ihres Gatten bei Gericht.

Seit sich Edward Feathers im Ruhe­stand be­findet, hat sich das Ehepaar nach Dorset an Englands Süd­west­küste zu­rückgezogen. Um das ver­steckt liegen­de Landhaus mit großem Garten kümmert sich Perso­nal. Ge­sell­schaftliche Verpflich­tungen haben sie keine mehr. Die bei­den Herr­schaf­ten »konzen­trierten sich auf ihre Zu­friedenheit und auf das Gefühl, in ihrem erfolg­reichen Leben ge­borgen zu sein«.

In dieser friedli­chen Ausgangs­lage beginnt Jane Gar­dams Roman. Doch schon bald ereilt Betty ein un­er­warteter Tod. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um die Reliquie ihrer Eska­pade, eine Kette aus »Schand­perlen«, die Terry ihr einst ge­schenkt hatte, im Tul­penbeet zu ver­gra­ben.

Plötzlich seiner wich­tigsten Stütze beraubt, kollabiert Sir Edwards sorg­sam er­richtetes Seelengerüst: »er weinte«. Auf einmal holt ihn ein, was er Zeit seines Le­bens zu »vergessen ge­übt« hatte, was »äußerliche Ab­ge­klärtheit«, Selbstdiszi­plin und Un­nahbar­keit auch vor ihm selbst ver­bargen. Nach ei­niger Zeit des Nach­denkens (»Es war alles nichtig. Ich bin alt, ver­gessen und sterbe allein.«) bricht er zu einer wage­muti­gen Tour de Force im Auto auf. Sie führt den des Selbstfahrens längst ent­wöhn­ten alten Herrn auf aben­teu­er­lichen Pfa­den zu den frühesten Stationen seines wech­selvollen Lebens. Wäh­rend wir ihn le­send be­gleiten, er­steht das sub­tile Por­trät eines un­gewöhnlichen Mannes, der in seiner letzten Le­bensphase »an sich selbst zu rütteln« be­schließt und sich seiner Vergan­gen­heit und einem wohl ge­hüteten, dunklen Ge­heimnis stellt.

Edward wurde 1922 in der Kolo­nie British-Malaya ge­boren. Seine Mutter stirbt am Kind­bett­fieber. Sein Vater Ali­stair, ein hoher kolo­nialer Ver­wal­tungsbeamter, von Kriegstrau­mata gezeich­net, interessiert sich nicht für seinen Sohn. Das Kind wächst des­halb in der ma­layischen Fami­lie sei­ner Amme auf. Nie wie­der wird er so viel Liebe und Nest­wärme er­halten wie hier in sei­nen ersten viereinhalb Le­bensjah­ren.

Dann über­zeugt eine Abgesandte der Baptis­ten­mission Vater Ali­stair, dass der Knabe nun end­lich einer christ­lich-europäi­schen Erzie­hung zuge­führt wer­den müsse, wenn er nicht als ver­kümmer­ter Wil­der enden soll. Sie holt den kleinen Jun­gen aus dem schmudde­ligen Hüt­tendorf in die Mission, damit er Eng­lisch lernt und sein Stottern ablegt, dann wird er einer Pflegefamilie in Wales an­ver­traut, bis er mit acht Jahren in die Internate des elitären Pri­vat­schulsystems eintritt. Ein lieblos über­gebenes Sil­berdöschen aus dem Be­sitz sei­ner Mutter ist sein einziger Begleiter.

Edwards trost­lose Kindheit und Jugend ist kein Einzel­schicksal. Zahl­reiche höhere Be­amte und Of­fi­ziere im bri­tischen Außen­dienst wollten auf keinen Fall, dass ihr neu­ge­borener Nach­wuchs dem un­ge­sunden Klima und den politi­schen Gefah­ren der fernöstlichen Kolonien ausge­setzt würde. Lie­ber ver­frachtete man die Kleinen zu­rück nach Groß­britan­nien und brachte sie bei Ver­wandten oder fremden Er­satzfamilien unter. Diese wa­ren viel­fach auf das geringe Zu­brot ange­wiesen, mit dem man ihnen ihre Diens­te ent­galt, und trieben so wenig Auf­wand wie möglich. Willkür, Mangel an Zuwendung, körperliche Ver­nachläs­si­gung und grausame Bestrafungen waren offen­bar eher die Regel als die Aus­nahme und hin­ter­ließen le­bens­lange Spuren bei den Kindern.

Das bekann­teste unter diesen Raj orphans war Rudyard Kipling. Dessen auto­biografi­scher Roman »Something of Myself« Rudyard Kipling: »Something of Myself« bei Amazon hat die englische Auto­rin Jane Gardam zu ihrem Roman inspi­riert, den sie »den Raj-Waisen und ihren Kin­dern« wid­met.

Edward Feathers resümiert am Ende: »Mein ganzes Le­ben lang, seit ich ein klei­nes Kind war, wurde ich verlassen oder im Stich gelas­sen oder durch den Tod von den Men­schen ge­trennt, die ich geliebt habe oder denen ich wichtig war.« Emotionale Heimat­losigkeit und Entbehrung prägten sei­nen Charak­ter, seine Lebens­art, seine Gleichgül­tigkeit ge­genüber den von ihm Verur­teilten. So über­aus erfolgreich er seine aka­de­mische Ausbil­dung und Kar­riere als Jurist ab­solvierte, so glänzend es ihm gelang, sich zu einem »untadeligen Mann« zu for­men, so schrecklich un­terent­wickelt blie­ben seine emotionalen Fä­higkeiten.

Das Kon­flikt­potenzial in sei­ner Per­sönlich­keit manifestiert sich in dem Spitznamen, mit dem ihn seine Kolle­gen in Hongkong be­dacht hat­ten (und der im ge­samten Roman für ihn verwen­det wird, als sei es sein wahrer Ei­genname). »Filth« ist ein Akronym für das Bonmot »Failed In London Try Hong Kong«, eine abfäl­lige An­spie­lung auf Hongkong-Bri­ten. Das Wort hat aber auch die eigenstän­dige Bedeu­tung »Schmutz, Dreck, Schund«. Was andere als kesse Ironie emp­fanden, war für Feathers gar keine Beleidi­gung, sondern traf sein wahres Ich. Denn er hatte sich zeitle­bens schmutzig gefühlt, be­fleckt von einer Schuld, die ihn stets bedrückt hat. Der so per­fekt auftre­tende Gen­tleman trug keine ma­kellose Weste.

Die englische Autorin Jane Gardam, 1928 geboren, ist im deutschen Sprachraum un­begreifli­cherweise un­bekannt geblieben, ob­wohl sie in ihrer Heimat seit lan­gem hoch gelobt und geehrt wird (zum Beispiel als Fellow der Royal Society of Literature). Ihr ausgegli­chener, sub­tiler Stil und ihre erzähle­ri­sche Kraft erin­nern bri­tische Kriti­ker an lite­ra­rische Grö­ßen wie Jane Austen, Kathe­rine Mans­field und Alice Munroe. Jetzt hat sich der Hanser-Verlag ihrer Roman-Tri­logie um »Old Filth« an­genom­men (siehe Zu­sam­menstellung unten) und den ersten Teil in der wunderbaren Übersetzung von Isabel Bogdan heraus­gege­ben. (Der zweite Teil ist für Mai 2016 ange­kündigt.)

Jane Gardam verwebt in diesem Ro­man mehrere Fäden auf literarisch eindrucks­volle Weise zu einem zar­ten Ge­flecht. In einem souve­rän kompo­nier­ten Er­zählfluss aus Feathers' Erlebnissen und Schick­salsschlä­gen in zahlrei­chen Zeit­phasen, sei­nen Refle­xio­nen und Tag­träumen kehren die verdrängten Vorgänge lang­sam, aber unauf­haltsam und schließlich mit geballter Wucht wie­der. Die Autorin führt aber ihren Pro­tago­nis­ten, der sich selbst de­maskiert, nicht etwa vor, son­dern zeichnet ihre Charaktere feinfühlig und respekt­voll nach bes­ter briti­scher Tradi­tion. In lei­ser, unter­haltsa­mer Leichtigkeit wechseln wit­zige Epi­soden (etwa Feathers' Autofahrt), amü­sant iro­nisierte Milieus (bei Ge­richt; Tee mit Queen Mary; Landleben in Dorset) und tief traurige Szenen.

Mag einem der Roman anfangs so aus der Zeit gefallen vor­kommen wie sein Prota­gonist (ein »Quasten­flosser«), so ist man Feathers (»Die Frauen waren ver­rückt nach ihm.«) und der spät ent­deckten gro­ßen engli­schen Lite­ratin am Ende mit Haut und Haaren erle­gen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2015 aufgenom­men.


Die Old-Filth-Trilogie:
• »Old Filth (Old Filth Trilogy 1)« Jane Gardam: »Old Filth (Old Filth Trilogy 1)« bei Amazon (2004) | »Ein untadeliger Mann« (Übersetzung: Isabel Bogdan)
• »The Man in the Wooden Hat (Old Filth Trilogy 2)« Jane Gardam: »The Man in the Wooden Hat (Old Filth Trilogy 2)« bei Amazon (2009) | »Eine treue Frau« Jane Gardam: »Eine treue Frau« bei Amazon (Mai 2016) (Übersetzung: Isabel Bogdan)
• »Last Friends (Old Filth Trilogy 3)« Jane Gardam: »Last Friends (Old Filth Trilogy 3)« bei Amazon (2013)
Englische Sammelausgabe: »Jane Gardam's Old Filth Trilogy Boxed Set« Jane Gardam: »Jane Gardam's Old Filth Trilogy Boxed Set« bei Amazon

 


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