Neues aus Main-Chicago
Das Leben schreibt doch die besten Geschichten. In Hessen stehen Landtagswahlen an. Ministerpräsident Roland Koch (CDU) droht der Verlust seiner absoluten Mehrheit. Seine Herausforderin Andrea Ypsilanti (SPD) ist populär, aber wird es zur Regierungsübernahme reichen? Mit der Linken, das hat sie zugesagt, wird sie nicht koalieren noch kungeln.
Aber was zählt in der Politik schon das Geschwätz von gestern? Geringe Wahlbeteiligung, CDU minus 12, SPD plus 7,6 Prozent, beide Parteien 42 Sitze im Landesparlament: Patt. Als auch noch die Koalitionsverhandlungen CDU/FDP und SPD/Grüne scheitern, lockt Andrea Ypsilanti das vorab verschmähte linke Gift: Als Steigbügelhalter ins Ministerpräsidentenbüro wäre die frisch eingezogene Linksfraktion ja doch ganz hilfreich. Mit Regieren ist zwar nicht viel, wenn man keine Mehrheit hat, aber erstens wäre die CDU abgesägt, zweitens brächte das Amt so schönes Prestige, und drittens würden sich die Linken schon ab und zu für ein Projekt kau... – äh, überzeugen lassen.
Andrea denkt, Gott lenkt. Weil vier SPD-Abgeordnete – Aufrechte oder Verräter? – die linke Tour nicht mitmachen wollen, gibt's keine Regierungsbildung, sondern Neuwahlen. Statt der blamierten Andrea Ypsilanti kandidiert Thorsten Schäfer-Gümbel, und am Ende bleibt alles beim Alten und Roland Koch Ministerpräsident.
Diese Geschichte eines Wortbruchs trug sich im Winter 2008/2009 zu, und Jan Seghers setzt auf ihr seinen neuen Krimi »Die Sterntaler-Verschwörung« auf. »Alle Ereignisse und Personen sind frei erfunden. Selbst der Vollmond scheint, wann er will«, behauptet er scheinheilig im Impressum, um nicht anzuecken, wenn er die Steilvorlage aus der Realität zum Anlass nimmt, um in der Fiktion ein richtiges Schmierentheater auszupolstern.
Dabei gleichen seine Politiker ihren Vorbildern abgesehen vom Namen bis ins Detail. Sabine Xanthopoulos will den Job von Ministerpräsident Rolf-Peter Becker. Der ist »ein Vorbild an Fleiß, Disziplin und Zähigkeit«, zu Hause in den Feinschmeckerlokalen der Mainmetropole, aber ebenso gern schaut er mitten in der Nacht mit seinem Fahrer im Fast-Food-Restaurant vorbei. Gerade kehrt er von einem Privatbesuch beim Dalai Lama zurück, einem wahren Freund. Leider spricht man ihm zu seinem Bedauern dessen gerühmteste Eigenschaften gänzlich ab: »entspannt, witzig und weise«. Die kann man allerdings auch kaum erwarten bei einem, der soeben zwölf Prozentpunkte bei den Wahlen versiebt hat ...
In dieser für Becker ziemlich verzweifelten Lage spinnt Jan Seghers nun eine üble Intrige aus, bei der man nur hoffen kann, dass alle, wirklich »alle Ereignisse ... frei erfunden« sind. Strippenzieher ist Udo Klotz, der Regierungssprecher (in der Realität hatte Dirk Metz das Amt inne). Er gibt seinem Ministerpräsidenten als »Souffleur« die Gangart vor, nachdem Sabine Xanthopoulos (»wir nennen sie Xanthippe«) hat durchsickern lassen, dass sie das mit den Linken jetzt nicht mehr so eng sehe wie im Wahlkampf. Um die Gefahr des Machtverlusts zu kontern, will Klotz zweigleisig fahren: Erstens soll die Dame fortan konsequent als »Lügnerin, Lügnerin, Lügnerin«gebrandmarkt werden: »Wir sind die Guten, sie ist die Böse.« Zweitens sollen »zwei plus X« Abgeordnete aus der SPD/Linke-Fraktion gewonnen werden, nicht für Madame X zu stimmen – dann muss es Neuwahlen geben.
Allerdings fehlt auch Rolf-Peter Becker schon jetzt eine Stimme zum Ministerpräsidenten-Amtsverlängerungsvertrag: Oberförster Freiherr Johann von Münzenberg ist zu den »Krötenfreunden« (den Grünen) übergelaufen, aus Protest gegen die Ausbaupläne für den Rhein-Main-Flughafen. Auch gegen diesen Abweichler – Aufrechter oder Verräter? – initiiert Udo Klotz eine fiese Kampagne, bei der Innenminister Roland Wagner helfen darf. (Dieses Amt bekleidete anno 2008 Volker Bouffier, der heute als Ministerpräsident regiert.) Auf Grund von Munkeleien, der adlige Herr liebe nicht nur junge Kröten, durchsucht das LKA (auf des Innenministers Weisung) seine Burg. Obwohl man dort keinerlei kinderpornographisches Material findet, treiben die Unterstellungen den Baron in den Selbstmord.
Die schmierigen Machenschaften, die der Autor den CDU-Politikern auf den Leib fabuliert, sind die eine Seite des Krimis. Der zweite Handlungsstrang setzt ein, als eine investigative Journalistin ermordet aufgefunden wird. Und dann kommt noch eine lange zurückliegende tödliche Vergewaltigungsserie ins Spiel, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Diese drei Motivketten verwebt Seghers kunstvoll miteinander und verknüpft sie durch seinen bewährten Protagonisten, den Hauptkommissar Robert Marthaler, Leiter der Ersten Mordkommission. An die Fälle aus den Achtziger Jahren kommt Marthaler, weil er eine neu gegründete kleine Abteilung übernimmt: Das Team soll längst aufgegebene Fälle (»Cold Cases«) mit modernen Methoden erneut sichten.
Als hätte Marthaler nicht schon genug an der Backe, reist auch noch Anna Buchwald, eine befreundete Journalistin aus Hamburg, bei ihm an. Eine Kollegin von ihr sei einer heißen Sache auf der Spur und nun schon seit Tagen unerreichbar. Recht widerwillig lässt der Kommissar sich drängen, nach der Frau zu suchen, die in Kollegenkreisen als eigenwillig und verschroben gilt und gern Alleingänge unternimmt. Als Marthaler mit Anna im Hotel Zooblick ankommt, wo die neugierige Journalistin unter falschem Namen eingecheckt war, hat der Hotelier gerade die Polizei angerufen, um einen »kalten Check-out« zu melden: eine Tote mit geschnürten Stiefeletten, rot gefärbtem Haar und vollständig schwarz gekleidet. Die Todesart – ein Schuss mitten ins Auge – lässt auf Mafia und »Schnüfflertod« schließen. Was mag sie gesehen haben?
Kaum eingetroffen, ist Marthaler auch schon raus, denn blitzeschnell taucht das LKA am Tatort auf und übernimmt unmissverständlich den Fall. Doch natürlich lässt sich ein Robert Marthaler nicht von den markigen Ansagen des LKA-Teamchefs und Unsympathen Axel Rotteck in die Schranken weisen – im Gegenteil ...
Während in Marthalers Team die guten und aufrechten Polizisten wirken, agieren auf der anderen Seite die »Bullen« – korrupte Beamte, die niemandem Rechenschaft abgeben, denn sie sind der verlängerte Arm der Politik. Bei so einer schlichten Konstellation ahnt der Leser bald, wer hinter der »Sterntaler-Verschwörung« steckt und was deren Ziel ist.
Doch der Leser denkt, Seghers lenkt. Der Autor braucht seinen Fiesling vom LKA wohl noch als Gegenpart für weitere Folgen der Krimireihe um Kommissar Robert Marthaler. Damit ihm nach der letzten Seite des Romans nicht zuviel Dreck am Stecken haftet, greift Jan Seghers tief in die Trickkiste, so dass die Auflösung arg konstruiert daherkommt und nicht recht überzeugt. Schade, denn ansonsten ist das Opus gute, ansprechende Unterhaltung und trotz seiner Komplexität prima aufbereitet. Manche der Nebenhandlungen wiederholen bereits erzählte Ereignisse aus anderer Perspektive, was bei Schnell- und Am-Stück-Lesern vielleicht Dynamik und Spannung bremst, aber gemächlichen Genießern vom Typ »Ich schaffe täglich nur zehn Seiten« immer wieder schön in den Gesamtzusammenhang einhilft.