Die Leiden des Kommissars
Anna Ekholm ist sauer. Ihr Vater will sie nicht bei ihrer Freundin übernachten lassen. Wegen der Chemie-Klassenarbeit am nächsten Tag hat ihre Mutter für heute »frühe Bettruhe« angesagt. Chemie hat sie doch ohnehin abgehakt; sie blickt schon lange nicht mehr durch. Doch die Diskussion mit Vater Lasse nach dem abendlichen Eishockeytraining bringt gar nichts; am Ende steigt sie brav zu ihm ins Auto, und er schiebt die CD mit ihrem Lieblingssong in den Player. Plötzlich nimmt er ein ungewöhnlich helles Licht, einen »Blitz« wahr, und schon überschlägt sich der Wagen. Bei seiner Vernehmung im Krankenhaus kann sich Lasse nur noch an Annas Lachen, an die »Irritation in ihren Augen« erinnern.
Die Elfjährige hat den Unfall nicht überlebt. Die Techniker, die den Ort untersuchen, sind sich schnell einig: »Unfall, mit Todesfolge, der Unfallverursacher ist weg, Fahrerflucht.«
Kommissar Kimmo Joentaa übernimmt den Fall.
Markus Sedin (verheiratet, ein Sohn) ist nicht irgendein Fondsmanager, sondern der »Tausendsassa« der Norda-Bank. Seine Dienstreise mit ein paar Kollegen ins belgische Ostende hat eine Fusion mit dem traditionellen Bankhaus De Vries eingefädelt. Nun lässt man das Arbeitstreffen in einem Nobelclub ausklingen. Bei Schampus schaut man den in Käfigen tanzenden Frauen zu. Mit einer von ihnen kommt Sedin ins Gespräch und nimmt sie mit auf sein Hotelzimmer. Réka ist »eine Ungarin aus Rumänien« und kann weder lesen noch schreiben, außer ihren Namen. Den findet Sedin am nächsten Morgen auf einem Zettel neben ihrer Telefonnummer.
Die Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Ehe er Réka aus Helsinki anruft, hat Sedin Vorbereitungen getroffen, um sie nach Finnland zu holen. Er wird ihr eine Wohnung kaufen und ihr so viel Geld zur Verfügung stellen, dass sie davon sogar noch ihre Familie unterstützen kann. Eine Familie, die darauf angewiesen ist, dass ihre Töchter sich im Westen prostituieren.
Von dem Moment an, da Réka im verheißungsvollen Helsinki eintrifft, führt Sedin ein Doppelleben. Doch Réka ebenfalls: Sie arbeitet in einem Saunaclub und wird im Internet als »Dragana. Teenymaus, tabulos« beworben. Als ihr Sedin durch einen dummen Zufall auf die Schliche kommt, gesteht sie, ihn hintergangen zu haben, erklärt aber, dass all sein Geld nicht ausgereicht habe, um ihre Familie in Rumänien durchzubringen. Die Sache endet tragisch: Réka und ein Fremder werden tot auf einer Parkbank aufgefunden.
Kommissar Kimmo Joentaa übernimmt den Fall.
»Friend-of-fire« ist der »lonely hero« des Chatrooms. In der Schule wird Unto Beck allerdings nicht für voll genommen. Man kann ihm locker Süßigkeiten abnehmen, ihn niederringen und fertigmachen – ein lustiges Schauspiel für die kichernden »Fotzen aus meiner Klasse«. Jetzt haben ihm auch noch die »Idioten« vom Militär eine Absage geschickt, weil er keine Schul- oder sonstigen Abschlüsse vorweisen kann. Aber eines Tages wird er es ihnen allen zeigen. Sein Vorbild ist »Fucking Genius« Anders Breivik. Einen schwarzen Umhang hat sich Unto schon genäht, er hat Munition gesammelt, und sein Plan heißt »Kinder killen« ...
Mari (29) ahnt schon länger, dass etwas nicht stimmt mit ihrem kleinen Bruder. Sie schaut schon mal vorbei und redet mit ihm, aber er ist unerreichbar; »als sie geht, trennen uns endlich wieder Welten«. Nur im Internet kommt sie dem »friend-of-fire« als »Angel-in-darkness« näher. Ob Untos »Schwesterherz« ihn vor dem tödlichen Amoklauf bewahren kann?
»Tage des letzten Schnees« ist ein intelligenter, komplexer, vielschichtiger Roman mit drei straff konstruierten Handlungssträngen und sechs Toten. Freilich ist es nur in der Fiktion möglich, dass so viele Zufälle das Schicksal der Menschen bestimmen und die Ereignisse mit solcher Wucht aufeinander prallen wie hier. Doch die Auflösung ist schlüssig und stimmig, sie wirkt nicht an den Haaren herbeigezogen.
Die drei Plots sind unterschiedlich strukturiert (nach Monaten, Chronologie, mit Zeitsprüngen, Ortswechsel; Druckbild und Kapitelüberschriften sorgen für Orientierung). Die erzählerische Gestaltung überzeugt mit häufigen Perspektiv- und Tempowechseln, Dialog- und Erzählpassagen und etlichen unvorhersehbaren Wendungen bis zum wahren Überraschungsknaller im letzten Kapitel.
Der deutsche Autor Jan Costin Wagner treibt seine Krimi-Herde auf fremde Weiden, indem er die Romane um den Kommissar Kimmo Joentaa in Finnland ansiedelt. Schließlich grast da seit Jahren ein Dutzend mächtiger Platzhirsche. Aber mit seinen bislang fünf Büchern hat Wagner erfolgreich ein Revier markiert, das neben denen von Zwölfendern wie Adler-Olsen, Dahl, Larsson, Mankell, Marklund, Nesbø, Nesser usw. gut bestehen kann.
Wagners Held ist keine einfache Figur. Nach dem Tod seiner Ehefrau Sanna unterhält Joentaa eine Beziehung zu einer Prostituierten, die sich Larissa nennt. Zeitweise lebt sie bei ihm in seiner Dunkelheit, dann geht sie wieder unbekannte eigene Wege. Der Wohnungsschlüssel, den er für sie unter einem Baum vergräbt, symbolisiert die Freiheit, die sie sich nimmt.
Der stille, melancholische Protagonist mag anfangs zu sensibel, zu introvertiert erscheinen, um seiner Aufgabe als aktiver Ermittler gerecht werden zu können. Zu schwer trägt er an seinem persönlichen Schicksalsschlag. Doch gerade das weit über das Normalmaß hinaus gehende Empathievermögen zeichnet ihn im Verlauf der Handlung aus. Der Kommissar nimmt aufrichtig Anteil an der Not der Opfer von Gewalt, Verbrechen oder Unfällen.
So schürft »Tage des letzten Schnees« tiefer als mancher Erfolgskrimi, der auf Aktion oder brutale Gewalt setzt. Alle Hauptfiguren sind seelenverwandt: Sie sind allein, sie suchen irgendetwas, das die Leere füllen kann. Joentaa verfolgen tagtäglich die bitteren Erinnerungen an Sanna, und der Tod der kleinen Ekholm-Tochter erschüttert ihn kaum weniger als ihre Eltern. Er besucht sie, nimmt an der Beerdigung teil, und er spürt, wie der Schmerz das Paar auseinanderreißt.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2014 aufgenommen.