Sakari lernt, durch Wände zu gehen
von Jan Costin Wagner
Polizist Grönholm erschießt einen merkwürdigen Mann, der ihn mit dem Messer bedroht. Dass der Mann in Wirklichkeit harmlos war, stürzt ihn in Verzweiflung. Kommissar Kimmo Joentaa klärt auf, was es mit dem Opfer auf sich hat, und leistet seinem Kollegen Beistand.
Tanz mit den Toten
Ein Unzurechnungsfähiger, bei dem mit jeder spontanen, unkontrollierten Aggressivität gerechnet werden muss. Wer würde den jungen Mann nicht so einschätzen, der da auf dem Marktplatz im Springbrunnen hockt, splitternackt und mit einem Messer in der Hand? Ein Polizeikommissar wie Petri Grönholm muss diesen worst case in Betracht ziehen, ehe er Maßnahmen ergreift. Er kennt den Schauplatz genau, hat die Bedrohungslage gut vor Augen, schickt zwei Einsatzwagen los.
Grönholm macht sich auf den Weg, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Er spricht mit dem Mann im Brunnen, der sich mit seinem Messer blutig ritzt, schaut ihm in die schwarzen Augen, die »durch ihn hindurch in eine fremde Ferne« sehen, hört ihn sagen »Ich … bin ein Engel«, aber erreichen kann er ihn nicht. Als er zu ihm in den Brunnen steigt, richtet der andere sein Messer auf den Polizisten, der zielt, drückt ab, mehrfach sogar. Später erklärt er, er habe den Mann aus großer Angst um sich, aber auch um die Bevölkerung erschossen.
Wer würde Grönholms Vorgehen nicht verstehen und billigen? Grönholm selbst tut das nicht. Denn kein Weg führt vorbei an der bitteren Wahrheit: Er hat einen harmlosen, liebenswerten Menschen getötet.
Diese Schlüsselszene erzählt Jan Costin Wagner multiperspektivisch. Jede der beteiligten Figuren erhält ihre eigene Stimme. Je mehr sich der Konflikt zuspitzt, desto dichter, drängender wird die Atmosphäre. Fast simultan erklingen die Stimmen, der Satzbau zerfällt. Knappe Hauptsätze im Präsens, Fragmente, Wortwiederholungen, einfache Wörter reihen sich in einem Staccato, das in Eindringlichkeit und Ton an die frühen Erzählungen von Heinrich Böll erinnert.
Im weiteren Handlungsgang, in dem Kriminalkommissar Kimmo Joentaa die Persönlichkeit des Mannes im Brunnen und die Handlungsweise seines Kollegen Grönholm aufklärt, muss der Autor zügiger vorangehen, behält aber die Mehrstimmigkeit als strukturierendes Prinzip bei. Viele kurze Episoden aus wechselnden Perspektiven fügen sich zu einer traurigen Geschichte.
Der Nackte im Brunnen heißt Sakari Ekman und ist neunzehn. Als Vierzehnjähriger vergötterte er Emma Nystad, seine »Fee des frühen Morgens« aus der Nachbarschaft. Eine Motorrad-Spritztour mit ihr endete in einem Unfall, der Emmas Leben und das Glück zweier Familien kostete.
Sakari hatte schon vorher unter einer Persönlichkeitsstörung gelitten und Drogen genommen. Der tragische, von ihm verschuldete Unfall katapultierte ihn vollends aus der Realität. Fortan lebte er in einer Traumwelt, wo er Emma suchte, ihre Stimme hörte. In seinem Facebookprofil gab er als Beruf »Engel« an, das kleine Apartment, das er allein bewohnte, nannte er »Wolken-WG«, und die dominierende Farbe darin ist Blau, wie der Himmel und das Meer.
Nach dem sinnlosen Unfalltod ihrer Tochter kann die Familie Nystad kein normales Leben mehr führen. Mutter Leena verlässt die glücklichere Vergangenheit nicht mehr; ihre beiden Söhne, David und Erik, nimmt sie nicht mehr wahr. Ihren Mann, als Pilot und Snookerspieler schon immer in anderen Sphären unterwegs, zieht nichts mehr in seine Heimat zurück. Auf Davids SMS-Anfragen, wo er gerade sei, reagiert er selten.
Kimmo Joentaa, der sich bereits zum sechsten Mal als Protagonist in einem Kriminalroman von Jan Costin Wagner bewähren darf, ist ein ungewöhnlich feinfühliger Kommissar. Kein Vorwurf kommt über seine Lippen. Einfühlsam versucht er, Grönholms seelische Nöte und die schwere Schuld, die auf ihm lastet, mit ihm zu bewältigen. Auch die beiden Nachbarfamilien Ekman und Nystadt besucht und befragt der Polizist voller Anteilnahme und Respekt.
Melancholie und Kälte sind die Gefühle, die in Skandinavien-Krimis üblicherweise den Plot mit einer Moll-Melodie untermalen. Aber die tiefe Traurigkeit, die Jan Costin Wagner seiner finnischen Kimmo-Joentaa-Reihe mitgibt, ist schier nicht auszuhalten. Hier zieht ein Leid das andere nach sich. Lauter seelisch gemarterte Menschen verlieren ihre Bodenhaftung im Leben, ziehen sich in vergangene Parallelwelten zurück, suchen ihre Lieben im Reich der Toten, sehnen sich selber dorthin. Wie könnten ihre Angehörigen, »allein geblieben im Hier und Jetzt«, die Verluste verkraften? Leenas Sohn David, 11, verliert seine unschuldige Ausgelassenheit. Er übernimmt Verantwortung für den vierjährigen Bruder und stemmt die Alltagsaufgaben – eine viel zu schwere Last für ein Kind. Auch Grönholm, gänzlich unerfahren und ohne jede Ausbildung im Umgang mit psychisch Kranken, war in der Konfrontation mit der schwierigen Persönlichkeit des Sakari Ekman überfordert.
Tröstliches gibt es für treue Wagner-Leser nur von Kimmo Joentaas familiärer Entwicklung zu erfahren. Auch er hatte jahrelang schwer zu tragen, nachdem seine Ehefrau ihrem Krebsleiden erlag. Mit seiner Tochter verbinden ihn gegenseitige Fürsorglichkeit, Liebe, neue Lebensbejahung und ein Zuhause als stabiler Rückzugsort, wo sie zusammen kochen und lachen können. Wenn Kimmo im Einsatz ist, weiß er das vernünftige, verantwortungsbewusste Mädchen im Kreise ihrer Freundinnen gut und sicher aufgehoben.
Jan Costin Wagner, 1972 geboren, lebt bei Frankfurt und in Finnland, der Heimat seiner Frau. Bereits sein Romandebüt »Nachtfahrt« wurde als bester Kriminalroman des Jahres 2002 mit dem Marlowe-Preis ausgezeichnet, und seitdem erhielt der Autor etliche weitere Anerkennungen. Seine literarische Leistung ist beeindruckend. Er hat einen markanten Charakter gestaltet, der durch tiefempfundenes Mitfühlen, leise Nachdenklichkeit und Melancholie Sympathie erweckt und (nach Wagners eigenem Bekunden) eine »schweigende Wärme« ausstrahlt, die eine typisch finnische Eigenheit sei. Dabei versinkt Kimmo Joentaa keineswegs in Sentimentalität, sondern verarbeitet seine Schicksalsschläge aktiv und hilft anderen Leidenden durch Trost und Beistand, ihre Nöte zu bewältigen. Mit diesem Protagonisten hat Wagner außerdem das erstaunliche Kunststück vollbracht, einen eigenständigen Typus des Kriminalromans zu erschaffen, der entgegen den Trends des Genres ganz ohne das Böse, ohne Hass, ohne Neid und ohne Blutbäder auskommt und trotzdem äußerst spannend zu lesen ist.
Schließlich überzeugt Wagners Stil. Er ist einerseits schlicht und unprätenziös in Syntax und Vokabular, klar und distanziert in der Aussage, sachlich im Ton. Andererseits hat der Autor die Gabe, seine scharfen Beobachtungen auf den Punkt zu bringen, so dass er intensive Wirkungen auslöst. Von besonderer Kraft sind die ästhetischen, einprägsamen Sprachbilder (» … Netz auf der Haut, das Wasser und Sand gesponnen haben«; »was Petri plötzlich sagt, in die Stille hinein, verdichtet sich sofort, formt sich aus, bildet einen gelben Schmetterling, der in der Luft flattert«).
Dank der Fähigkeit, seine Figuren bis in die Tiefen ihrer Seelen stimmig zu konstruieren, gelingt es Wagner, uns die schwer verständliche Parallelwelt der Traumatisierten, der psychisch Leidenden zu erschließen. In seinem Roman können wir sie begleiten, mit ihnen »von Tür zu Tür« gehen, aus ihrer Perspektive hinter die Schutzwände schauen, durch die niemand zu ihnen vordringen soll und kann, ihre Bilder sehen, ihre Träume träumen, erspüren, was es heißt, wenn am Morgen die Dunkelheit der Nacht verblasst: Dann wird die Angst zur »Erinnerung, die Erinnerung Fantasie, die Fantasie ein stillstehender Gedanke, über den er lachen kann«. Mit dem Sonnenlicht kehren die Menschen wieder, mit ihnen die namenlose Bedrohung und die Angst, und die Geplagten ziehen sich wieder in ihr enges Inneres zurück.
Die Handlung beruht auf einem wahren Ereignis, das sich Ende Juni 2013 am Neptunbrunnen auf dem Alexanderplatz zutrug. Jan Costin Wagner hat die Geschichte aus Berlin nach Turku an der Südwestküste Finnlands verlegt und zu einem Kunstwerk erhöht.