Rezension zu »Sakari lernt, durch Wände zu gehen« von Jan Costin Wagner

Sakari lernt, durch Wände zu gehen

von


Polizist Grönholm erschießt einen merkwürdigen Mann, der ihn mit dem Messer bedroht. Dass der Mann in Wirklichkeit harmlos war, stürzt ihn in Verzweiflung. Kommissar Kimmo Joentaa klärt auf, was es mit dem Opfer auf sich hat, und leistet seinem Kollegen Beistand.
Kriminalroman · Galiani · · 240 S. · ISBN 9783869710181
Sprache: de · Herkunft: de

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Tanz mit den Toten

Rezension vom 13.01.2018 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ein Unzurechnungsfähiger, bei dem mit jeder spontanen, unkontrol­lier­ten Aggressi­vität gerechnet werden muss. Wer würde den jungen Mann nicht so einschätzen, der da auf dem Markt­platz im Spring­brunnen hockt, splitter­nackt und mit einem Messer in der Hand? Ein Polizei­kom­mis­sar wie Petri Grön­holm muss diesen worst case in Betracht ziehen, ehe er Maß­nah­men ergreift. Er kennt den Schau­platz genau, hat die Bedrohungs­lage gut vor Augen, schickt zwei Einsatz­wagen los.

Grönholm macht sich auf den Weg, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Er spricht mit dem Mann im Brunnen, der sich mit seinem Messer blutig ritzt, schaut ihm in die schwarzen Augen, die »durch ihn hindurch in eine fremde Ferne« sehen, hört ihn sagen »Ich … bin ein Engel«, aber errei­chen kann er ihn nicht. Als er zu ihm in den Brunnen steigt, richtet der andere sein Messer auf den Polizis­ten, der zielt, drückt ab, mehr­fach sogar. Später erklärt er, er habe den Mann aus großer Angst um sich, aber auch um die Bevölke­rung erschossen.

Wer würde Grönholms Vorgehen nicht verstehen und billigen? Grön­holm selbst tut das nicht. Denn kein Weg führt vorbei an der bitteren Wahrheit: Er hat einen harm­losen, liebens­werten Menschen getötet.

Diese Schlüsselszene erzählt Jan Costin Wagner multi­perspekti­visch. Jede der beteiligten Figuren erhält ihre eigene Stimme. Je mehr sich der Konflikt zuspitzt, desto dichter, drängender wird die Atmos­phäre. Fast simultan erklingen die Stimmen, der Satzbau zerfällt. Knappe Haupt­sätze im Präsens, Frag­mente, Wort­wieder­holun­gen, einfache Wörter reihen sich in einem Staccato, das in Ein­dring­lich­keit und Ton an die frühen Er­zählun­gen von Heinrich Böll erinnert.

Im weiteren Handlungsgang, in dem Kriminal­kommis­sar Kimmo Joentaa die Per­sönlich­keit des Mannes im Brunnen und die Hand­lungs­weise seines Kollegen Grön­holm aufklärt, muss der Autor zügiger voran­gehen, behält aber die Mehr­stimmig­keit als struktu­rieren­des Prinzip bei. Viele kurze Episoden aus wech­selnden Perspek­tiven fügen sich zu einer traurigen Geschichte.

Der Nackte im Brunnen heißt Sakari Ekman und ist neun­zehn. Als Vierzehn­jähriger vergötterte er Emma Nystad, seine »Fee des frühen Morgens« aus der Nach­bar­schaft. Eine Motor­rad-Spritz­tour mit ihr endete in einem Unfall, der Emmas Leben und das Glück zweier Familien kostete.

Sakari hatte schon vorher unter einer Persön­lichkeits­störung gelitten und Drogen genommen. Der tragische, von ihm verschul­dete Unfall kata­pul­tierte ihn vollends aus der Realität. Fortan lebte er in einer Traum­welt, wo er Emma suchte, ihre Stimme hörte. In seinem Face­book­profil gab er als Beruf »Engel« an, das kleine Apart­ment, das er allein bewohnte, nannte er »Wolken-WG«, und die dominie­rende Farbe darin ist Blau, wie der Himmel und das Meer.

Nach dem sinnlosen Unfalltod ihrer Tochter kann die Familie Nystad kein normales Leben mehr führen. Mutter Leena verlässt die glückli­chere Vergangen­heit nicht mehr; ihre beiden Söhne, David und Erik, nimmt sie nicht mehr wahr. Ihren Mann, als Pilot und Snooker­spieler schon immer in anderen Sphären unter­wegs, zieht nichts mehr in seine Heimat zurück. Auf Davids SMS-Anfragen, wo er gerade sei, reagiert er selten.

Kimmo Joentaa, der sich bereits zum sechsten Mal als Protago­nist in einem Kriminal­roman von Jan Costin Wagner bewähren darf, ist ein ungewöhn­lich feinfüh­liger Kommissar. Kein Vorwurf kommt über seine Lippen. Einfühl­sam versucht er, Grön­holms seelische Nöte und die schwere Schuld, die auf ihm lastet, mit ihm zu bewäl­tigen. Auch die beiden Nachbar­familien Ekman und Nystadt besucht und befragt der Polizist voller Anteil­nahme und Respekt.

Melancholie und Kälte sind die Gefühle, die in Skandi­navien-Krimis üblicher­weise den Plot mit einer Moll-Melodie unter­malen. Aber die tiefe Traurig­keit, die Jan Costin Wagner seiner finni­schen Kimmo-Joentaa-Reihe mitgibt, ist schier nicht auszu­halten. Hier zieht ein Leid das andere nach sich. Lauter seelisch gemar­terte Menschen verlieren ihre Boden­haftung im Leben, ziehen sich in vergan­gene Parallel­welten zurück, suchen ihre Lieben im Reich der Toten, sehnen sich selber dorthin. Wie könnten ihre Ange­höri­gen, »allein geblie­ben im Hier und Jetzt«, die Verluste verkraften? Leenas Sohn David, 11, verliert seine unschul­dige Ausge­lassen­heit. Er über­nimmt Ver­antwor­tung für den vierjäh­rigen Bruder und stemmt die Alltags­aufgaben – eine viel zu schwere Last für ein Kind. Auch Grön­holm, gänzlich uner­fahren und ohne jede Ausbil­dung im Umgang mit psychisch Kranken, war in der Konfron­tation mit der schwie­rigen Per­sönlich­keit des Sakari Ekman über­fordert.

Tröstliches gibt es für treue Wagner-Leser nur von Kimmo Joentaas familiärer Entwick­lung zu erfahren. Auch er hatte jahre­lang schwer zu tragen, nach­dem seine Ehefrau ihrem Krebs­leiden erlag. Mit seiner Tochter verbin­den ihn gegen­seitige Für­sorglich­keit, Liebe, neue Lebens­bejahung und ein Zuhause als stabiler Rückzugs­ort, wo sie zusam­men kochen und lachen können. Wenn Kimmo im Einsatz ist, weiß er das vernünf­tige, verant­wortungs­bewusste Mädchen im Kreise ihrer Freun­dinnen gut und sicher aufge­hoben.

Jan Costin Wagner, 1972 geboren, lebt bei Frankfurt und in Finnland, der Heimat seiner Frau. Bereits sein Roman­debüt »Nachtfahrt« wurde als bester Kriminal­roman des Jahres 2002 mit dem Marlowe-Preis ausge­zeichnet, und seitdem erhielt der Autor etliche weitere Anerken­nungen. Seine literarische Leistung ist beeindru­ckend. Er hat einen markanten Charakter gestaltet, der durch tief­empfun­denes Mitfühlen, leise Nach­denk­lich­keit und Melan­cholie Sympathie erweckt und (nach Wagners eigenem Bekunden) eine »schwei­gende Wärme« aus­strahlt, die eine typisch finnische Eigen­heit sei. Dabei versinkt Kimmo Joentaa keines­wegs in Sentimen­talität, sondern verarbeitet seine Schick­sals­schläge aktiv und hilft anderen Lei­denden durch Trost und Bei­stand, ihre Nöte zu bewäl­tigen. Mit diesem Protago­nisten hat Wagner außerdem das erstaunliche Kunst­stück vollbracht, einen eigen­ständi­gen Typus des Kriminal­romans zu erschaffen, der entgegen den Trends des Genres ganz ohne das Böse, ohne Hass, ohne Neid und ohne Blut­bäder auskommt und trotzdem äußerst spannend zu lesen ist.

Schließlich überzeugt Wagners Stil. Er ist einer­seits schlicht und unpräten­ziös in Syntax und Voka­bular, klar und distan­ziert in der Aussage, sachlich im Ton. Anderer­seits hat der Autor die Gabe, seine scharfen Beob­achtun­gen auf den Punkt zu bringen, so dass er intensive Wirkun­gen auslöst. Von beson­derer Kraft sind die ästheti­schen, einpräg­samen Sprach­bilder (» … Netz auf der Haut, das Wasser und Sand gespon­nen haben«; »was Petri plötzlich sagt, in die Stille hinein, verdichtet sich sofort, formt sich aus, bildet einen gelben Schmetter­ling, der in der Luft flattert«).

Dank der Fähigkeit, seine Figuren bis in die Tiefen ihrer Seelen stimmig zu konstru­ieren, gelingt es Wagner, uns die schwer verständ­liche Parallel­welt der Trauma­tisierten, der psychisch Leiden­den zu erschlie­ßen. In seinem Roman können wir sie begleiten, mit ihnen »von Tür zu Tür« gehen, aus ihrer Perspek­tive hinter die Schutz­wände schauen, durch die niemand zu ihnen vordrin­gen soll und kann, ihre Bilder sehen, ihre Träume träumen, erspüren, was es heißt, wenn am Morgen die Dunkel­heit der Nacht verblasst: Dann wird die Angst zur »Erinne­rung, die Erinne­rung Fantasie, die Fantasie ein still­stehen­der Gedanke, über den er lachen kann«. Mit dem Sonnen­licht kehren die Menschen wieder, mit ihnen die namen­lose Bedrohung und die Angst, und die Geplag­ten ziehen sich wieder in ihr enges Inneres zurück.

Die Handlung beruht auf einem wahren Ereignis, das sich Ende Juni 2013 am Neptun­brunnen auf dem Alexander­platz zutrug. Jan Costin Wagner hat die Geschichte aus Berlin nach Turku an der Südwest­küste Finnlands verlegt und zu einem Kunstwerk erhöht.


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