Zuviel Fett
Edie Herzen ist der Dreh- und Angelpunkt ihres Elternhauses. Schon als Fünfjährige ist sie »ein zementartiger Klops«, so unfähig wie unwillig, sich zu bewegen. Nach ein paar mühsam erklommenen Treppenstufen lässt sie sich einfach hinplumpsen: »Ich bin müde ... Trag mich.« Ihr den Wunsch zu erfüllen fällt der Mutter nicht leicht, denn sie hat den Arm voller Einkaufstüten, die Wohnung der Familie liegt im vierten Stock, und das Kind bringt satte 28 Kilogramm auf die Waage.
Leider hat das Mädchen bereits gelernt, ihrem Wunsch nach Bequemlichkeit auch in solchen Situationen durchzusetzen, in denen etwas Anstrengung und Einsicht den anderen und ihr nur gut täte. Sie lanciert einen heftigen Brüller, eskaliert ihn zu einem Schreien wie am Spieß, öffnet dazu die Tränenschleusen und wiederholt ihren Imperativ mit emotionalem Nachdruck. Leider hat die Mutter nicht gelernt, die Strategie (in der auch »ein winziger Funke Gemeinheit« aufblitzt) auf kluge Weise zu konterkarieren, sondern fährt im Gegenteil voll darauf ab. Sie drückt und herzt ihr schweres Schätzchen und fleht es an, doch endlich aufzuhören mit dem schmerzlichen (und peinlichen) Wehklagen. Zur Belohnung und Versöhnung steckt sie ihrem Kind ein frisch gebackenes Stück Roggenbrot mit leckerer Leberwurst ins Schnäbelchen, ehe sie es mit all den anderen Lasten auf ihre Arme hievt. Edi hat fürs Leben gelernt: »Essen war aus Liebe gemacht und Liebe aus Essen.«
Natürlich hat Mutters Fürsorge einen Grund. Edies Vater ist ein paar Jahre zuvor aus der Ukraine eingewandert. Aus seinem Vorleben dort weiß er, was es heißt zu hungern. Noch jetzt legt er am Familientisch instinktiv »zur Abgrenzung seines Territoriums einen Arm um den Teller« und schaufelt das Essen in sich hinein, ohne mit dem Kauen oder Atmen innezuhalten. Für ihn und seine Frau, die er in Chicago kennengelernt hatte, bedeutet Essen Überleben, und niemals soll ihre Tochter hungern müssen. Wen wundert es also, dass Edi ihr Leben lang wie triebhaft isst? Ob süchtig oder krank, ändern kann sie ihr Verhalten nicht, nicht einmal für die Familie, die sie selbst gründet. Sie heiratet Richard Middlestein, einen Apotheker, bekommt einen Sohn (Benny) und eine Tochter (Robin), arbeitet als Anwältin.
Edie Middlestein ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Familie, allerdings in einem negativen Sinn. Ihre Unmäßigkeit verzehrt rasch alle Liebe, und nach wenigen Jahren läutet eine ihrer denkwürdigen Fressattacken das Ende aller gemeinsamen Familienmahlzeiten ein. Mit den beiden Sprösslingen (zwei und sechs Jahre alt) fährt Edie von einem Drive-In zum nächsten, stopft fröhlich in sich hinein, was der Laden bietet, gönnt Richard, der hungrig von der Arbeit dazu kommt, seinen McRib nicht und zankt sich am Ende mit den Kleinen um die letzten Pommes. Die traurige Episode gipfelt in einem Streit der Eltern, an dessen Ende Richard seine Frau an einen anderen Tisch verweist, wo sie allein in den fettigen Fleischberg beißt.
Über vierzig Ehejahre schaut Richard hilflos zu, wie Edie, die zumeist Gift und Galle speiende Matrone, der fauchende »Dragoner«, zu einem unansehnlichen Kloß mit schwarzen Zähnen im Mund verkommt. Selbst für ihre Anwaltskanzlei wurde sie nach über dreißig Arbeitsjahren zu einer untragbaren Belastung, und man entließ sie in den vorzeitigen Ruhestand. Davon, sich ihrer zu entledigen, träumt auch Richard – und von einer Frau, die noch etwas mit ihm unternimmt, körperliche Liebe mit ihm teilt. Im Internet ist er bereits auf der Suche. Richard will die Scheidung.
Das ist in einer anständigen jüdischen Gemeinde allerdings ein unerhörtes Ansinnen. Sich nach so vielen Ehejahren aus dem Staub machen zu wollen, das gehört sich einfach nicht. Egal was vorgefallen war, jetzt muss auch das bittere Ende gemeinsam durchgestanden werden. Der Rest der Familie ist umso empörter, als es Edie gesundheitlich schlechter denn je geht. Sie leidet unter schwerer Diabetes und Kreislaufproblemen. Wenn nicht alle an einem Strang ziehen, wird sie sich bald zu Tode gefuttert haben.
Der Familienrat tagt. Als erstes attackieren Tochter Robin und Sohn Benny mit Ehefrau Rachelle den Vater, zeihen ihn des Egoismus und strafen ihn, wo es ihn am meisten schmerzt: Er darf seine geliebten Enkel, die Zwillinge Josh und Emily, nicht mehr sehen. Dabei steht bald deren Bar-Mitzwa-Fest an, eine gigantische Party, bei der der Großvater eigentlich nicht fehlen darf. Schließlich wird ein allumfassender Plan entwickelt: das Sanierungsprojekt Edie ...
Edie Herzen-Middlestein ist der Dreh- und Angelpunkt von Jami Attenbergs »The Middlesteins« (übersetzt von Barbara Christ). Das ist freilich kein Sachbuch, sondern ein Unterhaltungsroman, der sich des ernsten Themas auf humorvolle, wohl auch ironische Weise annehmen soll. Doch so recht wollen Adipositas und Komik hier nicht zusammenfinden.
Als wäre Edie mit all ihrer Last nicht schwer genug, um einem Roman Gewicht zu verleihen und Struktur zu geben, stattet die Autorin auch eine ganze Reihe von Nebenfiguren üppig mit Sorgenpotenzial aus, anstatt sich auf eine tiefer reichende, differenziertere Ausleuchtung der Protagonistin zu konzentrieren. Robins Männer- und Alkoholschwierigkeiten, Rachelles Egozentrik und Hyperaktivität sowie Bennys Duckmäusertum und Haarausfall – all das lenkt ab vom Zentralcharakter.
Herausgekommen ist unterm Strich das Porträt einer jüdischen Mittelklassefamilie am Rande Chicagos. Wir erleben lauter chaotische, eher bemitleidens- als liebenswerte und warmherzige Figuren, die um Edie kreisen, sich über Richard echauffieren und einer Familienfeier entgegentreiben, die zu einem Desaster zu werden droht. Jami Attenberg erzählt das aus mehreren Perspektiven, stilistisch und erzähltechnisch gekonnt (originell: Episoden, die mögliche Zukunftsentwicklungen projizieren), mit einigen satirischen Glanzlichtern, aber auch ein paar Schwächen (»Herzeleid«-Schmalz, frivole Sexszenen).
Im Handlungsgefüge belässt die Autorin Edis Adipositas mit all ihren unangenehmen Begleiterscheinungen lediglich in der Funktion eines Katalysators, obwohl sie doch in Wahrheit der Auslöser etlicher Konflikte sein dürfte. Damit spielt Jami Attenberg eine höchst fragwürdige gesellschaftliche Entwicklung mit immensen gesundheitlichen, psychischen, sozialen und finanziellen Folgen eher herunter, als sie zu thematisieren. In den USA, der Nation mit der weltweit führenden Adipositasrate von rund 34 Prozent, war »The Middlesteins« ein Bestseller.
Fazit: Ein unterhaltsamer, aber unentschlossener, unnötig weitläufiger Roman, der ein individuell und gesellschaftlich bedeutendes Problem unserer Zeit zu leichtfüßig abhandelt. Die Geschichte lässt uns eher ratlos als verständig, eher gleichgültig als betroffen und eher verwundert als amüsiert.