Das Boot im Fadenkreuz
Dass nordamerikanische Küstengewässer ab 1942 Kriegsschauplätze gewesen sein sollen, mag man kaum glauben. Wie hätten deutsche Einheiten Tausende Kilometer entfernt von ihren europäischen Heimathäfen in der Lage sein können, vor Neuengland oder im Mündungsdelta des Mississippi ernste Schäden anzurichten? Und doch drangen deutsche U-Boote bis dorthin vor und störten die Versorgungswege der Amerikaner zu ihren Truppen in Europa, indem sie Tankschiffe und Frachter attackierten. Erst im Sommer 2012 stießen Taucher vor der Insel Nantucket auf das Wrack von »U-550«, und elf Jahre zuvor war rund 70 Kilometer vor New Orleans in über tausend Meter Tiefe das Wrack von »U-166« entdeckt worden.
Selbst der Hobbytaucher Dave Robicheaux, Protagonist und Ich-Erzähler des vorliegenden Krimis, hat während seiner Collegezeit einmal ein solches Kriegsschiff der unheimlichsten Art aufgespürt. Die Existenz dieses U-Boots war kein großes Geheimnis und schon gleich kein Mythos gewesen. Es war 1942 in Küstennähe versenkt und seither von den Strömungen bis hinaus an den Rand des Festlandsockels vor Louisiana geschwemmt worden. Dort erblickte Dave es per Zufall nur zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche und erlebte mit, wie es über die Kante in dunkle Schlünde abrutschte.
Mit der packenden Schilderung dieser spektakulären Unterwasseraktion beginnt James Lee Burke seinen episch breit angelegten Kriminalroman »Dixie City Jam« , den Jürgen Bürger mit viel Engagement hervorragend übersetzt hat. Der gespenstische Fund ist der Zünder für ein komplexes Plot-Konstrukt, das mit dem kühnen Vorhaben, das seit inzwischen vielen Jahren in unbekannten Tiefen verschwundene Wrack zu heben, richtig Fahrt aufnimmt. Dabei stehen Schiff und Bergung aber nur im Hintergrund der Handlung.
Das generelle Strickmuster für den Plot ist gar nicht so kompliziert, wie die Seitenzahl befürchten lässt. Da gibt es zunächst ein begehrtes, aber schwer erreichbares und leicht anrüchiges Gut, dessen Wert sich je nach Perspektive unterschiedlich definiert und bemisst – das uralte deutsche U-Boot. Darum reißen sich einige zwiespältige Kandidaten, einer unsympathischer als der andere. Ihr Konkurrenzkampf sorgt für Spannung und Action, wenngleich man keinem von ihnen Erfolg wünschen mag.
Dann gibt es einen Schwachen und Benachteiligten, der unter die Räder kommt, während die Bösewichte ihre Rivalitäten ausfechten, und der Hilfe benötigt, um sich über Wasser zu halten.
Gut, dass es Dave, den Guten gibt. Der durchschaut alles und macht sich daran, die Dinge zurechtzurücken. Gegen das Böse setzt er sich zur Wehr, dem Hilflosen hilft er. Ob er seine Aufgaben schafft oder nicht, das ist die Frage, die uns bis zum Schluss in Spannung hält.
Was diesen Roman von vielen anderen nach ähnlichem Schema abhebt und auszeichnet, ist viererlei: die wortgewaltige Erzählkunst des Autors und seines Übersetzers, die dichte Südstaaten-Atmosphäre, die unglaublich drastische Milieuzeichnung und ein bisschen Nazi-Grusel.
Dave Robicheaux ist Polizist im New Iberia Parish Sheriff's Department. Mit seiner dunkelhäutigen Ehefrau Bootsie und Adoptivtochter Alafair (einem Flüchtlingskind aus El Salvador) lebt er in einem Holzhaus im wasserreichen Bayou. Ein Angelladen mit Bootsverleih unten am Steg bringt der Familie ein kleines Zubrot. Den betreibt ein grundehrlicher und anständiger alter Angestellter, der Indianer Batist, der weder schreiben noch lesen kann und abergläubisch wie seine Ahnen ist. Mit ihm fährt Dave in seiner Freizeit zum Tauchen hinaus.
Könnte Batist jemals einen Menschen töten? Am Tatort eines Ritualmordes findet man Indizien, die ihn schwer belasten, und so wird er verhaftet. Dahinter steckt allerdings auch eine fiese Rivalität zwischen Kollegen aus gemeinsamen Dienstzeiten in New Orleans. Der korrupte Nate Baxter sorgte seinerzeit dafür, dass Dave, damals alkoholabhängig, suspendiert und in die Provinz nach New Iberia versetzt wurde.
Dave ist von Batists Unschuld überzeugt, und er weiß, dass der Alte die Hölle des Knasts nicht unversehrt überstehen würde. Aber um seinen Angestellten in Freiheit zu behalten, muss er fünfzigtausend Dollar Kaution aufbringen. Sollte er also doch den Zehntausend-Dollar-Job annehmen, den Hippo ihm kürzlich antrug?
Hippo Bimstine gehören fast alle Drugstores in New Orleans, dazu einschlägige Glücksspieletablissements, und seinen Reichtum sieht man dem Genussmenschen mit »Schwabbelbacken« und »Stiernacken« schon von weitem an. Jetzt treibt ihn ein geniales Projekt um. Er will das »U-Boot voller abgesoffener Nazis«, von dem ihm Dave einst berichtet hatte, bergen und als makabre Casino-Attraktion ausschlachten. Dave bräuchte es nur wieder für ihn zu orten.
Es versteht sich, dass an dem »Schrott aus dem Zweiten Weltkrieg« noch andere interessiert sind. Plötzlich tauchen bei Dave etliche weitere »Psycho-Mutanten« auf – obskure, skurrile, durchgeknallte, wahnwitzige Typen wie der diabolische Psychopath und Neo-Nazi Will Buchalter, der kartoffelgesichtige irisch-stämmige Prolet Tommy Bobalouba Lonighan oder der Pseudo-Heilsbringer Reverend Oswald Flat.
Während »Brother Oswald« von seiner persönlichen Vergangenheit getrieben wird, verfolgen Buchalter und Lonighan jeweils eigene materielle Absichten mit dem Wrack. Gemeinsam haben sie nur die Entschlossenheit, dass es keinesfalls in die Hände des Juden Bimstine gelangen darf. Mit unterschiedlichen Methoden rückt jeder Dave und seiner Familie auf den Leib, damit er ihm und nicht Hippo zeigt, wo das Schiff liegt.
Was bleibt Dave anderes, als an all diesen Fronten einen ungleichen Kampf aufzunehmen? Es geht um viel Geld, Gerechtigkeit, Moral und das nackte Leben. An seiner Seite schlägt sich Partner Clete Purcel, leider ziemlich unberechenbar, aber robust im Nehmen und Austeilen. Heldentaten wie ein edles Kraftfahrzeug mit Beton auszugießen oder eine noble Immobilie mit dem Erdboden zu nivellieren sind seine Spezialität.
James Lee Burkes knüppelharter, actionreicher Krimi sondiert tief in Louisianas Gesellschaftsstruktur mit ihren unterschiedlichen Kulturen und schaufelt den schlimmsten Unrat diverser Milieus ans Tageslicht. In detailreichen, teils drastischen Beschreibungen und intensiven Charakterstudien konkretisiert der Autor Gewalt, mitleidlose Grausamkeit, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und viele weitere Übel, dazu miese Betätigungsfelder wie Drogenhandel, organisiertes Verbrechen, Prostitution und Korruption. Das Menschen- und Gesellschaftsbild, das er ausbreitet, lässt den Leser vollkommen desillusioniert und hoffnungslos wie selten zurück.
Die geschilderten Abgründe sind jedoch kein billig aufgesetztes voyeuristisches Spannungselement. Sie fließen vielmehr erschreckend natürlich in den Handlungsverlauf ein. Über die gesamten 576 Seiten hält der Autor den Spannungsbogen hoch und variiert gekonnt das Erzähltempo. Rasante Dialoge, oft in derbem Umgangston mit reichlich obszönem Vokabular, wechseln mit Beschreibungen der Bayou-Landschaft, die im Kontrast umso mehr an Poesie gewinnen. Eindrucksvoll, wie souverän Burke mit dem Stil spielt und jederzeit den angemessenen Ton trifft. Manchmal möchte man einfach nicht mehr weiterlesen und wendet sich angewidert ab – und ist doch wenige Zeilen später wieder gefangen und saugt Sätze auf, deren Aussage man kennt, die aber in Burkes Formulierungen unnachahmlich und frappierend einzigartig erscheinen.
Erstaunlich, dass dieses Meisterwerk mehr als zwanzig Jahre warten musste, bis es jetzt endlich auf Deutsch erschien. Die meisten anderen von James Lee Burkes zahlreichen Bücher aus den Achtziger- und Neunzigerjahren waren hingegen nach den üblichen zwei, drei Jahren hier erhältlich, allein ein Dutzend aus der Dave-Robicheaux-Reihe. Aber an thematischer Aktualität hat »Mississippi Jam« während der Wartezeit nichts verloren, und seine zeitlosen Qualitäten stellt Jürgen Bürgers kongeniale Übersetzung effektvoll heraus.