Der Alte muss es richten
Lyle Bowman ist an seiner Sucht gestorben. Seine ungezügelte Lust auf Süßigkeiten hat ihn nicht nur eine Unmenge an Zähnen gekostet, sondern am Ende auch das Leben. Indirekt zumindest. Als ihn der unbändige Wunsch nach einem Schokoriegel aus der sicheren Geborgenheit seines Hauses zum Kaufladen trieb, kollidierte der Dreiundachtzigjährige mit einem Doppeldeckerbus und verschied.
Drei Wochen später versammelt sich eine überschaubare Trauergemeinde im Krematorium:
• Onkel Frank, Lyles unverheirateter Bruder,
• Lyles Sohn Billy mit Ehefrau, Tochter sowie verwitweter Schwiegermutter,
• Lyles zweiter Sohn Greg, soeben in Flip-Flops und Hawaiihemd aus Texas eingeflogen,
• Lyles ältester noch lebender Freund und
• drei Nachbarn.
Schnell wird offenbar, dass nicht nur die Nachbarschaft einander nicht grün ist, sondern auch die kleine Familie, die der Alte hinterlässt, ein ziemlich hoffnungslos zerrüttetes Häuflein ist. Insbesondere zwischen Billy und Greg kriselt es schon seit Kindertagen. Während sich Mustersöhnchen Billy alles hart erkämpfen musste, fiel Greg alles zu, und trotz jugendlicher Fehltritte blieb er Mamas Liebling und ein Besserwisser. Einer der Tiefpunkte der verkorksten Geschwisterbeziehung war Billys Eheschließung mit einer Tochter aus besseren Kreisen, als Greg im Drogenrausch die kirchliche Zeremonie ruinierte. Beim Wiedersehen nach vielen Jahren zieht Greg es denn auch vor, sein Lager im restlos verlotterten Vaterhaus aufzuschlagen, statt die halbherzige Einladung des Bruders und der iggeligen Schwägerin anzunehmen. Sein Plan ist, nach dem Verkauf des alten Hauses mit dem erstbesten Flieger wieder nach Texas zu entfleuchen und die ganze Sippe hinter sich zu lassen.
Doch Autor J. Paul Henderson überrascht die Familie und uns Leser in seinem Skurrilitäten-Roman nach guter britischer Tradition mit einer witzigen, wenn auch nicht taufrischen Wendung: Aufgrund etwas verworrener Umstände im Empfangsbereich des Jenseits (»wie ein Flughafen«) kommt Lyle in den Genuss von maximal zwanzig Tagen »Heimaturlaub«. Die muss er nutzen, um zu ordnen, was er zu Lebzeiten nicht ordentlich hinbekam. Nur einer Person darf er sich offenbaren, und dazu erwählt er Greg. Mit dessen irdischer Hilfe macht er sich daran, zu retten, was zu retten ist, um die innerfamiliäre Harmonie wiederherzustellen.
Natürlich machen die ach so lieben Verwandten die Realisierung des Projekts nicht einfach, so schwer neben der Spur, wie sie sind. Onkel Frank, begeisterter Western-Fan, treibt nichts anderes um als sein letzter großer Wunsch, in voller Indianermontur über General Custers Schlachtfelder in Montana zu schreiten. Allerdings fehlt ihm das nötige Kleingeld. Und was tut man in so einer Bedrängnis? Man überfällt eine Bank.
Viel nachzubessern hat Lyle auch bei Billy, seinem Ältesten. Der lebt seit Langem in einer Parallelwelt, von der seine Gemahlin niemals etwas erfahren darf. Denn als er zum ersten Mal in seinem Leben aufrichtige Hingabe zu einer Frau empfand, war das Objekt seiner Sehnsucht keineswegs Jean, sondern eine Kollegin. Weil er dieser Dame obsessiv verfiel, verlor er seinen Job und gaukelt Jean seither vor, er sei viel auf Geschäftsreisen unterwegs. Dass hinter dieser Geschichte voller Absonderlichkeiten ein merkwürdiges Trauma steckt, das einzig Bruder Greg zu verantworten hat, ist wohl der skurrilste Handlungsstrang dieser bizarren Familiengeschichte.
»The Last of the Bowmans« , übersetzt von Jenny Merling, ist ein amüsanter, entspannender, harmloser Unterhaltungsroman, entstanden aus purer Fabulierfreude, Spaß am Absurden und an komischen Situationen. Die an Wortwitz reichen Dialoge fördern etliche dunkle Geheimnisse der Familie Bowman ans Tageslicht. Erst wenn endlich das nie zuvor über die Lippen gekommene Wort »Liebe« zwischen den Brüdern und dem Vater ausgesprochen ist, hat Lyle seine Mission erfüllt und kann die Himmelsleiter wieder hinaufsteigen.