Das Lachen der Geister
Die drei männlichen Leichen sind unversehrt, aber »nackt« und »aufgebläht«; »das quellende Fleisch« lässt sie aussehen wie »blutleere Gespenster«, denn von ihren Gesichtszügen sind nur wenige Furchen verblieben, »als hätten die Männer nicht glauben können, dass ein allenfalls doch vorhandenes göttliches Gericht so hart mit ihnen verfahren konnte«.
In dem engen Tal des Himalaya-Gebirges tobt der Monsun seit acht Tagen. Der zweiten Gebirgsdivision bleibt nur wenig Zeit, die Toten mit dem Hubschrauber zu bergen. Ehe der dichte Regen ihnen die Luft zum Atmen raubt und die Nebelwand ihnen jegliche Sicht nimmt, finden die Soldaten die vierte Leiche, aber der fünfte Mann bleibt vermisst.
Der gruselige Anfang dieses Romans verspricht Exotik, Spannung und mystische Rätsel. Doch gemach – dies ist nur der Vorspann, »Die Bergung« überschrieben. Der Leser braucht einen langen Atem und kontemplative Geduld, um nach gut zweihundert Seiten endlich den Fuß des Kanchanjangha dritthöchster Berg der Welt (8586m), zu erreichen. Noch einmal ungefähr zwanzig Seiten später endet dann die Expedition mit dem grauenerregenden Fund der Toten.
Doch die ersten Seiten werfen noch weitere Fragen auf. Bahnt sich ein Krimi, gar ein Thriller an?
Unser Ich-Erzähler, der Geowissenschaftler Dr. Bernard Rai, arbeitet am Wiener Institut für Meteorologie und Geodynamik, wo er Bildschirme füllende Satellitenbilder auswertet. Ein Netz von Messstationen und seine eigenen geschärften Sinnesorgane liefern ihm zuverlässige Werte über Druck, Temperaturen, Bewegungen und Geschwindigkeiten der Lüfte, so dass er die Entwicklung der Fronten und ihre unausweichlich dräuenden Konsequenzen (»Sintfluten und Kataklysmen«) zu erfassen vermag.
Privat ist er dem Portwein und der Damenwelt zugetan. Seinen indischen Wurzeln verdankt er ein exotisches Aussehen, das die Frauen magisch anzieht. »Maharadscha«, »Prinz«, »der hübsche Paradiesvogel« nannte ihn seine beste Freundin Margaret Chelseworth (»Maggie«, 38). Eigentlich kultiviert Bernard eine genetisch bedingte Aversion gegen die Briten. Sein Großvater bekämpfte die Kolonialmacht, ehe er inhaftiert wurde und nach Österreich floh. Maggies Großvater stand als britischer Offizier auf der gegnerischen Seite. »Maggie und ich – wir beide waren ein postkoloniales Versöhnungsprojekt.«
Doch nun liegt Maggie im Kühlhaus der Gerichtsmedizin; offenbar ist sie vergiftet worden. Drei Wochen vorher hatte sie ihren Exmann Christian Fust, von dem sie ein Jahr zuvor geschieden worden war, bei der Polizei als vermisst gemeldet. Fust, Professor für südasiatische Kulturen, ist zwar viel in »entlegenen Gegenden Indiens« unterwegs, aber seit Längerem nicht auffindbar. Über seine wissenschaftlichen Projekte (Schwerpunkt »alte medizinische Manuskripte auf Sanskrit«) hatte er sich verständlicherweise in Schweigen gehüllt.
Wenngleich ohne Auftrag und ermittlerische Erfahrung, fühlt sich Bernard doch verpflichtet, Christian Fust auf eigene Faust nachzuspüren. Denn er glaubt sich »mitschuldig an Maggies Tod – Unterlassung, miserable männliche Intuition, insgesamt unverzeihliche Verbrechen.«
Mit Bernard reisen wir also nach Indien und erforschen die Rätsel der ayurvedischen Medizin. Die Pharmaindustrie ist schon länger vor Ort. Sollten Wissenschaftlern wie Fust Fortschritte bei der Entschlüsselung der alten Sanskrit-Manuskripte gelingen, könnte die Wirkungsweise alter Heilpflanzen identifiziert werden, und dann locken gigantische Profite. »Soma« zum Beispiel soll das Leben der Menschen nicht nur verlängern können, sondern verspricht gar Unsterblichkeit. Geheimnisse dieser Größenordnung müssen gehütet werden, und zu ihrem Schutz würde mancher über Leichen gehen. Bernard kommt den Wissenschaftlern gefährlich nahe und muss tatsächlich um sein Leben fürchten.
Welch ein faszinierendes Konzept für einen ungewöhnlichen, anspruchsvollen Krimi! Doch leider ist »Der dritte Berg« ein reichlich verkopftes, zerstreutes und diffuses Gebilde.
Immer wieder schweift die Erzählung zu anderen Themen ab, etwa zu Bernards Abenteuer als Umweltaktivist in Greenpeace-Manier: Verwegene Schlauchboot-Piraten entern Luxusdampfer in der Antarktis und markieren ihn medial wirksam als Umweltsünder: »Luxury For You – Pest For The Rest«. Immerhin ist diese Episode unterhaltsam und relevant für die Charakterierung Bernards. Viele andere Passagen aber bleiben schlichtweg rätselhaft.
Zur Mystifizierung trägt auch der bisweilen verquaste Sprachstil bei. Die Syntax ist meist schlicht, dafür schwelgt Dam bei seiner Wortwahl aber gern im Fachchinesisch. Wenn Maggie vom »frühen Tantrismus« und »dem schwierigen Thema der Modifikation der alten Tridosha- und Ashtadhatu-Lehren durch Vagbhata« palavert, will sie Christian provozieren – doch da blendet auch ein universal gebildeter Autor, der sein Wissen dann lieber für sich behält. Der Anhang mit dichten Erläuterungen zu ein paar Stichwörtern und Themen hilft dem Laien nicht wirklich weiter; entweder surft man also einfach über all die beeindruckenden fremden Vokabeln hinweg (irgendwie erschließt sich das Ganze schon), oder man googelt nebenbei am Laptop ...
Nicht dass J.F. Dam nicht messerscharf zu formulieren wüsste. Geistreiche Formulierungen sprühen überall, zumal Seitenhiebe auf die Briten und Österreich, »dessen größter Vorzug gegenwärtig in seiner schadenlimitierenden Kleinheit besteht«.
Doch allzu oft verliert sich die Sprache des Erzählers in Andeutungen, die niemals konkretisiert werden. Da erinnert sich Bernard an ein Wochenende, das er zwei Jahre zuvor mit Christian und Maggie am Ufer des Gardasees verbrachte. Es gab heftige Auseinandersetzungen, und »irgendwo in diesem langen Abend ist die Lösung von Maggies Rätsel verborgen.« Nur wo? Gleich darauf folgt eine neue Aufgabe mit mehreren Unbekannten: Bernard liegt »weinend in Brennnesseln« (warum?), seine Mutter Helene schlürft »Sekt Orange« auf der Schaukel, da geht »ein Schatten (...) mit ausgebreiteten Armen auf mich zu«. »›Was machst du hier?‹, frage ich. ›Frage zurück‹, sagt der Schatten«; usw.
Am Ende entlässt mich »Der dritte Berg« ziemlich frustriert. Nach der anstrengenden Lektüre fassen zwei Seiten die vagen Ansätze zur Lösung des Krimiplots (die ich hier natürlich nicht verrate!) zusammen; so der Leser pingelig genug ist, die aufklärerische Fleißarbeit auf sich zu nehmen, bleibt sie ihm überlassen. Der Erzähler dagegen sagt: »Ich will darüber nicht im Detail berichten (...) alles Vergangenheit (...) das Unbekannte und Unmögliche habe Christian immer angezogen (...) terrae incognitae (...) ›den ultimativen weißen Flecken auf der Landkarte der menschlichen Eroberungen‹ (...) die Ereignisse, sie seien die Antwort«.