Humanität im Stresstest
Ein schönes Paar sind die beiden, und alle Voraussetzungen scheinen erfüllt, dass sie ein glückliches und befriedigendes Leben miteinander führen werden. Doch sie fordern das Schicksal heraus und geraten in eine unvorstellbar harte Prüfung, jenseits der Zivilisation und ganz auf sich allein gestellt. Wie sie sich darin bewähren, darum geht es in Isabelle Autissiers packendem Roman »Soudain, seuls« (übersetzt von Kirsten Gleinig), der für den renommierten Prix Goncourt nominiert wurde.
Ludovic ist 34 Jahre alt, stammt aus einer Pariser Wohlstandsfamilie und ist ein »umwerfender Typ«. Er sieht gut aus, ist sportlich und arbeitet erfolgreich als Eventmanager. Louise, konservativ erzogene Kaufmannstocher, ist eher introvertiert, zurückhaltend, bisweilen ängstlich. Obwohl von zierlicher Statur, liebt sie das Bergsteigen und führt Gruppen durch die Gletscherwelt ihrer Heimatregion Grenoble. Die beiden lernen einander im TGV nach Chamonix kennen, Louise erzählt Ludovic von ihren gefährlichen Kletterpartien in eisiger Natur, er verliebt sich in ihre funkelnden grünen Augen mit goldenen Sprenkeln und ihre Leidenschaftlichkeit, sie, die in Sachen Liebe noch wenig Erfahrung hat, ist von seiner positiven Ausstrahlung, seiner »Fähigkeit zu tiefem Glück« angezogen. Bald heiratet das junge Paar und führt eine gute Ehe, in der es an nichts fehlt.
Nach zwei unverzeihlichen Patzern im Job wünscht sich Ludovic eine Auszeit. Für seinen Traum von einem abenteuerlichen Sabbatjahr auf See werden sie nie wieder so frei sein wie jetzt. Wenngleich Louise den sicheren Hafen ihres Ehelebens auskostet und ihr Sinn gar nicht nach Veränderung steht, gibt sie ihrem impulsiven Mann, dem das Glück immer hold zu sein scheint, nach.
Ihr Segeltörn führt die beiden zu den Antillen, hinunter nach Patagonien und durch den Südatlantik in Richtung Südafrika. Hier würden sie entscheiden, ob sie die Weltumseglung komplettieren oder nach Hause zurückkehren würden. Bei schönem Wetter erleben sie überall glückliche gemeinsame Tage und genießen die Gastfreundschaft der Einheimischen, bis es sie zu anderen Gestaden weiterzieht.
Ihr Schicksal wendet sich, als sie die südgeorgische Insel Stromness erreichen (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen schottischen Orkney-Insel). Hier, »am Ende der Welt«, wurden einst Wale und Robben industriell abgeschlachtet, bis die Vermarktung ihrer Fette und Öle unrentabel wurde. Ein paar Fabrikruinen erinnern noch an jene Zeiten, ansonsten ist das Eiland unter strengen Natur- und Artenschutz gestellt und für Menschen gesperrt.
Louise und Ludovic betreten denn auch voller Ehrfurcht das verbotene Terrain, um die alte Walfangstation zu erkunden und die wunderbaren See-Elefanten, Seelöwen und Pinguine in ihrem idyllischen Ambiente zu beobachten. Oben in den Bergen lockt noch ein einzigartiges »Eislabyrinth«, und auch die heraufziehenden dunklen Wolken können Ludovic nicht von diesem Kletterabenteuer abhalten.
Doch das Unwetter nimmt einen verheerenden Lauf. Der Sturm reißt die in der Bucht vertäute Jacht fort und isoliert damit die beiden Protagonisten. Die stellen sich recht unbedarft auf ein neues Abenteuer ein: ein bisschen Robinson spielen, einzigartige Freiheit in einer archaischen Welt erleben, bis ein Schiff vorbei kommt und sie rettet. Nur langsam dämmert ihnen, dass die Katastrophe von ganz anderer Dimension ist. Sie haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Eindringlich schildert Isabelle Autissier nun den Überlebenskampf der beiden Stadtmenschen auf ihrer Insel. Geistig und mental in keiner Weise auf eine solche Situation vorbereitet, doch ganz ihren kulturellen Wurzeln verpflichtet, nehmen die beiden die Herausforderung an. Sie bauen eine Unterkunft, regeln ihren Tagesablauf, halten gar einen »Tag des Herrn« als Ruhetag ein.
Das hört sich an wie eine moderne Neuauflage von Daniel Defoes »Robinson Crusoe«: Mit pragmatischer Vernunft, Unternehmungsgeist und Gottvertrauen kann der Mensch jede Lage meistern. Doch wenn Autissier die beiden Geworfenen in ihrer Ausnahmesituation beobachtet, nimmt sie einerseits die Problematik ihrer Beziehung, andererseits die Tragfähigkeit ihrer humanitären Zivilisiertheit ins Visier: Ist ihre aufgeklärte Menschlichkeit so robust, dass sie auch unter extremen Bedingungen bewahrt werden kann?
Während alles noch viel schlimmer kommt, als der Leser ahnt, wird auch die Psyche der Protagonisten immer schwerer belastet. Ihren drohenden Untergang stets vor Augen, bemühen sich beide redlich, einen vernünftigen Umgang miteinander aufrechtzuerhalten, zusammenzustehen, einander Trost zuzusprechen, gute Laune zu mimen. Doch ganz unterdrücken können sie Streitereien, Schuldzuweisungen und gemeine Sticheleien nicht. Schließlich spitzt sich die Lage unerträglich zu, und unsägliche Entscheidungen müssen getroffen werden.
Nach acht Monaten wird Louise gerettet, und auf »Dort«, die Inselepisode, folgt »Hier«, der zweite Teil des Romans, zurück in der Heimat. Die Medien stürzen sich auf die dem Tod Entronnene, aber Louise ist vorerst zu keinem Interview bereit. Zu sehr belasten sie ihre Erlebnisse, und sie hat ein Geheimnis zu bewahren.
Isabelle Autissier hat 1991 als erste Frau allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelt und kann also kompetent schildern, was ihren Protagonisten widerfährt. Über das Seefahrerabenteuer hinaus aber hat sie eine spannende Psychostudie mit bitterem, tragischem Verlauf geschaffen. Der Plot ist glaubwürdig zielgerichtet und spannend, das Verhalten der Protagonisten gut fundiert und zu Diskussionen anregend, der Erzählstil sicher und eingängig. Die Autorin lässt in unserer Vorstellung wunderbare, geradezu poetische Landschafts- und lebendige Tierbeschreibungen als großartige Bilder entstehen.