Laufen
von Isabel Bogdan
Wie umgehen mit dem Selbstmord eines depressiven Partners? Der Erzählerin wird empfohlen zu laufen.
Ein Schlüsselbuch
Sanft und unscheinbar schleicht sich die heimtückische Krankheit in das Leben der namenlosen Ich-Erzählerin und ihres Partners, mit dem sie seit zehn Jahren in einer engen Beziehung lebt, gewollt ohne Trauschein, ungewollt ohne Kinder. Kleine Durchhänger, Schwierigkeiten, den Tag zu meistern, langsamer emotionaler Rückzug – das sind keine alarmierenden Symptome. Dann diagnostiziert ein Arzt eine Depression. Eine Therapie bringt Besserung. Ein erneuter Schub macht alles zunichte. Ihr Partner bestimmt den Tag, an dem er seinem Leben ein Ende setzt und sie zurücklässt. Da ist sie 43 Jahre alt – zu jung, um sich als »verwitwet« oder als »Hinterbliebene« zu bezeichnen.
Ein Jahr lang steckt sie fest. Von Schuldgefühlen gefesselt, gelähmt vor seelischen Schmerzen, zwischen Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln findet sie keinen Ausweg in ein neues eigenes Leben und bringt nicht die Kraft auf, danach zu suchen. Öde Spiele am Computer schlagen Stunden tot, können aber nicht die Leerstelle überdecken, die ihr Partner hinterlassen hat und in der nun düstere Gedanken schwelen. Bis Freundin Rike den Anstoß gibt: »Laufen ist mit Sicherheit gut.«
Damit beginnt der anspruchsvolle Roman über eine Frau, die sich die Seele aus dem Leib läuft, weg von der Vergangenheit, weg von sich, hin zu sich. Dies ist keine Trainingsanleitung, schildert aber sehr realistisch die Schinderei der ersten Schritte, das Brennen im Bewegungsapparat, das Stechen in den Lungen, die Last der ungleichmäßigen Atmung, den verführerischen Wunsch, direkt wieder aufzuhören, und seine Überwindung. Nach einer Weile – das weiß sie von früher, als sie noch regelmäßig joggte – wird sich Zufriedenheit einstellen.
Ein Jahr lang laufen wir an der Seite der Erzählerin den langen Leidensweg ihres zweiten Jahres ohne Partner. Anfangs führt er kaum heraus aus der Einsamkeit und ihrem wunden Inneren, wo die immer gleichen Überlegungen kreisen. Dass es ihm nicht so gut ging, wusste sie, aber wie schlimm es wirklich war, hätte sie spüren müssen – »aber ich habe es nicht, und vielleicht hätte ich es auch nicht können«, »du warst ja immer noch lustig, manchmal jedenfalls«, »alles falsch gedacht«.
Den verstorbenen Partner loszulassen vermag sie nicht, sie will ihn halten, wenigstens in der flüchtigen Gestalt seines Geruchs, bis auch der intime Duft seines Schlafanzugs verfliegt. Beim Laufen durchquert sie ihre Beziehung, von den Schmetterlingen im Bauch bis zum langsamen Auseinanderdriften. Das ging mit der Lustlosigkeit des Partners einher. Sie zeigte Verständnis und hoffte auf Wiederkehr des früheren Glücks. Am Ende war die Innigkeit ihrer Beziehung dahin. Da gab es einen unbedeutenden Seitensprung. Hätte eine Trennung das Schlimmste verhindert? Die Körperlichkeit des Laufens macht ihr bewusst, wie sehr sie sich nach Berührung, wärmender Umarmung und Sexualität sehnt.
Mit der Länge der Laufstrecke wächst der Abstand von den Geschehnissen. Mit dem Gleichmaß der Schritte und der Atmung findet sie innere Ruhe. Ihre Gedanken öffnen sich wie ihre Wahrnehmungen der Außenwelt. »Bachblüten gegen Einsamkeit« empfiehlt die alberne Werbung einer Apotheke. Junge Familien im Park verlocken sie dazu, sich in deren vermeintlich glückliche Partnerschaft hineinzudenken, bis sie klugerweise wieder abschaltet: Ausflüchte helfen nicht.
Die Ich-Erzählerin ist Bratschistin in einem Hamburger Profiorchester. Ihre Arbeit »hält [sie] aufrecht«. Vor allem im Quartett fühlt sie sich aufgehoben, mit Verständnis und Nachsicht getragen. Die Musik lenkt sie ab, ihre Themen, Rhythmen, Tempi, Stimmungen und Strukturen erfüllen ihr Innerstes.
Kleinere und größere Aktionen zeigen, dass und wie sie sich freiläuft. Sie stärkt ihr Ego durch Worte (»Ich will …«) und ihre Umsetzung in Taten. Sie bezieht eine neue Wohnung, kauft ein neues Bett (groß genug für zwei), streift ihre ›Schutzkleidung‹ (Friesennerz) ab und trägt ein rotes Kleid zur Schau. Sie wird keine »Päckchen« mehr tragen, sondern »Löcher« des Verlustes – »keine Kinder, kein Mann, die einen waren noch nie da, der andere ist nicht mehr da«. Das letzte Wort des Romans ist der Name des toten Partners, den sie nie vergessen wird.
Isabel Bogdan, wenige Jahre älter als ihre Protagonistin, ist eine bemerkenswert vielseitige Autorin. Sie übersetzt fiction und non-fiction aus dem Englischen, mischt im Literaturbetrieb mit, bloggt und veröffentlichte 2016 ihren ersten Roman »Der Pfau« [› Rezension]. Die Unterschiede zwischen dieser heiteren Geschichte aus dem schottischen Landhausleben und ihrem zweiten Roman könnten nicht größer sein.
Jetzt wagt sie sich an ein Thema, das in unserer Konsum- und Mediengesellschaft keine »Likes« einsammelt, sondern als unangenehm empfunden und an den Rand geschoben wird. Gegenüber einem, dem es so schlecht geht, dass er sich umbringen möchte, fühlen sich die meisten hilflos und gegenüber seinen Angehörigen ebenso. Bogdan hat Isolation und Verlassenheit ihrer Protagonistin literarisch perfekt gefasst, indem sie sie mutterseelenalleine mit sich und ihrem Innenleben lässt, namenlos und ohne Begleitung ihre Runden ziehend. Dazu passt der anstrengende Erzählstil des inneren Monologs: Die Gedanken der Ich-Erzählerin fließen dahin, wie sie kommen und gehen, ungebremst, ohne Filter, ein Strom endloser Sätze mit wechselnden Eindrücken, Überlegungen und Gefühlen, eingefärbt durch Humor, Esprit und Sarkasmus: Hoffnung und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Entschlossenheit, Trauer und Wut (»was für eine beschissene Dreckskrankheit das ist … wie soll man die denn auch verstehen? Ich verstehe auch keine Atomphysik«). Da ist kein Zuhörer, der alles aufnehmen, kein Partner, der spiegeln, bestärken, lindern, relativieren oder dagegen halten könnte. Es gibt auch keine Handlung, sondern als einziges Strukturprinzip des inneren Stromes die langsame Aufhellung der Stimmung. Damit kehrt Beruhigung ein, die Sätze werden kürzer, klarer.
»Laufen« ist ein kleines, aber sehr viel sagendes Buch. Mit Recht wird es angepriesen, weil es Verständnis wecken, Angehörige trösten und ihnen Mut machen kann. Wer selber in einer Depression oder Lebenskrise steckt, ist dagegen oft für jede derartige Ansprache unerreichbar. Wer sie hinter sich hat, möchte sich von dem durchgemachten Elend so schnell und so weit wie möglich entfernen. Vielleicht finden aber Verwandte und Freunde in diesem Roman den winzigen Schlüssel, um das »verschlossene Herz« eines Menschen, der ihnen und dem Leben entglitten ist, zu öffnen.