Rezension zu »Mayas Tagebuch« von Isabel Allende

Mayas Tagebuch

von


Belletristik · Suhrkamp · · Gebunden · 447 S. · ISBN 9783518422878
Sprache: de · Herkunft: es

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Durch Willensstärke zurück im Leben

Rezension vom 25.08.2012 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

"Kindchen ..., du bist der Sonnenschein meiner trüben alten Tage", versichert der 70-jährige Manuel der 19-jährigen Maya in leicht sarkastischem Ton. Er lebt in einer Pfahlbauhütte auf einer kleinen, einsamen chilenischen Insel, introvertiert und eigenbrötlerisch. Oft schreckt er Maya in ihren schlaflosen Nächten auf, wenn seine Schreie die Stille durchschneiden: "Holt mich raus!" Der Anthropologe Manuel ist ein alter Freund von Mayas Großmutter Ninis, und nur ihr zuliebe hat er ihre Enkelin in seinem Refugium aufgenommen. Er ist ihre letzte Rettung, denn sie wird verfolgt und muss damit rechnen, getötet zu werden.

Bei ihren Großeltern in Kalifornien erlebte Maya eine wunderbare Kindheit. Ihre Mutter Marta, eine Dänin, hatte sie im Stich gelassen, und ihr Vater, ein Pilot, schwirrte lieber in der Welt herum, wollte Verantwortung und Erziehung nicht auf sich nehmen. Großmutter ist zum zweiten Mal verheiratet. Paul Ditson, ihr Mann, den Maya liebevoll "Pop" nennt, ist Afroamerikaner und Professor an der University of Berkeley. Er ist einer der wenigen dunkelhäutigen Männer, die sich der astronomischen Forschung widmen. Im Gegensatz zu Großmutter, die mit strengem Regiment waltet, ist Pop der ruhige, phantasievolle Träumer, der Mayas Welt mit Zauber, Abenteuer, Optimismus, Stärke und Vertrauen füllt. Als Maya sechzehn Jahre alt ist, stirbt Pop qualvoll an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nicht nur Großmutter weiß mit ihrer unendlichen Trauer kaum ihr Leben zu meistern, auch Maya findet keinen Halt mehr, hat jegliche Orientierung verloren. Sie schwänzt die Schule, kleidet sich im Gothic Style, konsumiert alles, was sie betäuben kann. Sie lügt, klaut, wird erwischt und kommt in ein Heim für drogenabhängige, kriminelle Jugendliche. Lange hält sie es hier nicht aus, den Therapien verschließt sie sich. Als ein Brand ausbricht, nutzt sie das Chaos zur Flucht in die vermeintliche Freiheit.

Sie trampt nach Las Vegas, in die glitzernde Spielerstadt. Es ist ihr Weg in die Hölle. Vergewaltigt von dem Truckerfahrer, fällt sie einem Dealer, Brandon Leemann, in die Hände. Nachts soll sie kleine Botendienste für ihn übernehmen. In kürzester Zeit versinkt sie im Sumpf übelster Kriminalität, wird selber zur Verbrecherin, entkommt nur knapp dem Tod. Die Krankenschwester Olympia bietet der völlig abgerissenen Süchtigen ein Versteck und wählt Großmutters Nummer – denn Maya schafft nicht einmal diesen Hilferuf selber.

Glücklich, endlich von ihrer verschollenen Enkelin zu hören, reist Ninis stantepede an. Gemeinsam müssen sie Mayas Spuren vernichten, denn sie weiß zuviel von Prostitution, Morden, Korruption, Drogengeschäft, Falschgeld, wertvollen Druckplatten. Aber die Hyänen werden nicht eher locker lassen, bis sie Maya mit ihren Zähnen zerreißen können ...

Untergetaucht bei Manuel, einem jetzt akzeptierten Schutzraum, findet Maya wieder zurück ins Leben. Nach ihrer Entgiftung hat sie hier einen freien Kopf, um über ihr kurzes, aber so ereignisreiches Vorleben nachzudenken: "Die schlimmen Erlebnisse der Vergangenheit sind Lehren für die Zukunft." In einem kleinen Tagebuch hält sie ihre Gedanken fest. Oft sieht sie ihren Pop vor Augen, spürt ihn ganz nah. Tatsächlich hält er sein Versprechen, immer bei ihr zu sein.

Die Autorin Isabel Allende ist gebürtige Chilenin und eine Verwandte von Salvador Allende, der 1973 bei dem blutigen Putsch des Diktators Augusto Pinochet um Leben kam. Da wird jeder Leser erwarten, dass die Historie Teil der Handlung ist. So muss Protagonistin Maya sich an die grausame politische Zeit mit Verfolgung und Folter unzähliger Menschen heranwagen. Manuels Albträume werden ihr nun klar. Großmutter hat ihr vieles verheimlicht. Wie und warum verstarb ihr erster Mann in Chile? Er war Journalist, und er war Manuel einst begegnet. In letzter Sekunde konnte Großmutter damals mit Sohn Andrés, Mayas Vater, fliehen und den Milizionären der Junta entkommen.

Isabel Allendes "Das Geisterhaus" (1982) ist mir bis heute wie kaum ein anderer Roman im Gedächtnis haften geblieben. Anders, aber mit gleicher Intensität empfinde ich die literarische Kraft der Autorin in ihrem neuesten Roman "Mayas Tagebuch" ("El cuaderno de Maya", übersetzt von Svenja Becker). Voller wunderschöner Landschaftsbeschreibungen, Magie und Mystik, Schilderungen berauschender Rituale der Einheimischen und ihres archaischen Lebens des Gebens und Nehmens, aufrichtiger Liebe und Opferungsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe – so begeistert und fesselt mich Allendes neues Buch. Der Krimi im Handlungsgeschehen ist ein neues literarisches Element im Schaffen der Autorin, und er ist ihr bestens gelungen. Ihre Figuren, von der Protagonistin Maya bis zum Kleinkriminellen, ja selbst bis zu den Tieren, beobachtet und beschreibt sie ohne Ausnahme so lebhaft, so differenziert, dass ich sie wie Bilder vor Augen habe. Schockierend, verstörend und beeindruckend authentisch, wie Allende sich in eine moderne amerikanische Jugendliche hineinzuversetzen vermag; die entsetzlichen Phasen des Drogenexzesses führen uns bis an die Schmerzgrenze.

Lassen Sie sich von diesem wundervollen, teils märchenhaften Roman betören, der neben leidvoller, schonungsloser Dramatik oft auch zum Schmunzeln einlädt.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher aufgenommen.


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