Ein unvergänglicher Sommer
von Isabel Allende
Drei Menschen treffen in New York aufeinander, wo sie ihre problematischen südamerikanischen Vergangenheiten verarbeiten und ein neues Leben beginnen möchten. Dazu müssen allerdings gewichtige Schwierigkeiten überwunden, Traumata, Hemmungen und eine Leiche beseitigt werden.
Neuanfänge
Spannung, hintergründiger Ernst, zarter Witz, Einfühlsamkeit und Charme halten den Leser dieses neuen Romans von Anfang bis zum Ende gefangen. Im Zentrum des Plots stehen drei schicksalsbeladene Personen, die der Zufall in New York zusammenführt. Die Fiktion ihrer gefährlichen Fluchtwege verwebt die Autorin in Rückblenden mit den historischen Zuständen und Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert in Lateinamerika, wo politische Regimes, Militärs sowie mächtige Drogengangs unfassbare Gräueltaten begingen und vielen Menschen den Tod brachten. Emigration ist ein verzweifelter Versuch, zu einem selbstbestimmten Leben zu finden und, oft genug, seine nackte Haut zu retten. Die drei fiktionalen Protagonisten gehören zu den wenigen Glücklichen, die das Land der Freiheit erreichen und ein neues Leben beginnen konnten.
Eine banaler Auffahrunfall im tief verschneiten New York führt die Hauptfiguren zusammen. Der sechzigjährige Universitätsprofessor Richard Bowmaster verliert auf dem Weg zum Tierarzt im Schneegestöber die Kontrolle über sein Auto und prallt auf den Wagen vor ihm. Die Sache, glaubt er, sei schnell geregelt, indem er der Geschädigten Versicherungskarte und Adresse zusteckt. Die kleine junge Frau ist völlig verschreckt und spricht keine Silbe.
Richard wähnt alles abgehakt, als die Fremde wenig später vor seiner Tür steht und sein wohlgeordnetes Leben schlagartig verändern wird. In seiner Hilflosigkeit angesichts der unerwarteten Besucherin ruft er seine Mieterin und Arbeitskollegin, die Chilenin Lucía Maraz (62) herbei. Die beiden entlocken der Besucherin (namens Evelyn) eine unfassbare Geschichte. Sie hat eine Fluchtodyssee aus Guatemala hinter sich, während der sie all ihre Papiere verloren hat. In New York hält sie sich als illegale Arbeitskraft über Wasser, in ständiger Furcht, von der Polizei festgenommen zu werden. Für einen Hungerlohn betreut sie den hilfsbedürftigen, kranken Jungen eines vermögenden Ehepaars mit undurchsichtigem Hintergrund. Als der Unfall geschah, war sie ohne Erlaubnis ihrer Arbeitgeber mit deren Auto unterwegs und ahnte nicht, dass im Kofferraum, eingerollt in einen Teppich, eine Frauenleiche lag. Wenn die Sache ans Licht käme, wer würde einer Illegalen jemals glauben, dass sie absolut nichts mit der Toten zu tun hat? So hecken die drei unter Federführung des peniblen Richard einen Plan aus, wie man Evelyn helfen und sich der Leiche am besten entledigen kann, ohne Spuren zu hinterlassen.
Während des mehrtägigen, an Abenteuern reichen Roadtrips zu einem abgelegenen See wechseln sich die Erzählungen der einzelnen Figuren ab, und wir erfahren von ihrem vergangenen und jetzigen Leben. Evelyn konnte ihrer Heimat Guatemala entkommen, ehe die marodierenden Banden sie, wie so viele andere indigene Einwohner, ermorden konnten. Ihr Erzählstrang – die Massaker an der indianischen Bevölkerung, ihr gefährlicher Fluchtweg, ihre Ankunft in den USA, das illegale Arbeitsverhältnis bei einem mit allen Wassern gewaschenen, gewalttätigen Arbeitgeber – ist der ergreifendste dieses Romans. In der Biografie der energischen Lucía kann man Parallelen zu der der Autorin entdecken. Beide entflohen dem Pinochet-Regime und recherchieren als investigative Journalistinnen den Verbrechen der Junta nach.
Richard Bowmasters Vita ist gewissermaßen ein Kontrastprogramm. Als junger Mann hat er im quirligen Rio de Janeiro gelebt und in der jungen Tanzlehrerin Anita die Liebe seines Lebens gefunden. Die beiden heiraten, doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen. Nach etlichen schweren Schicksalsschlägen wird Anita seelisch schwer krank, bis Richard sie nicht mehr erreichen kann. Er betäubt seine Verzweiflung mit Alkohol und Drogen. In seinen unglücklichsten Stunden verhilft ihm ein alter amerikanischer Freund zu einer Professorenstelle in New York, aber schon nach kurzer Zeit nimmt sich Anita dort das Leben.
Fortan führt Richard ein monotones Einsiedlerleben, diszipliniert, emotionslos, von Schuldgefühlen bedrückt. Bis er Lucía Maraz begegnet. Die allen Konventionen spottende Gast-Dozentin aus Chile, die Richards unterkühlte Souterrainwohnung bezieht, empfindet vom ersten Moment an romantische Sympathien für ihn, doch Richard gibt sich unnahbar. Erst während der Reise taut das Eis, und das schneller, als es der Plausibilität gut tut. Die beiden Senioren purzeln Hals über Kopf in eine intensive, deftige Affäre, die manches Frauenherz dahinschmelzen lassen mag, aber dabei tropft auch reichlich Kitsch.
»Ein unvergänglicher Sommer« (»Más allá del invierno« , übersetzt von Svenja Becker) ist inhaltlich wahrlich proppenvoll. Zu den eigentlichen Haupterzählsträngen gesellen sich jede Menge Nebenhandlungen, etwa die weitläufigen Familiengeschichten von Figuren, die außerhalb der Kernhandlung stehen. Auch wenn die Lektüre zügig voranschreitet, ohne dass jemals Langeweile aufkäme, hätte der Verlagslektor bei manchen Strängen getrost die Streichung erbitten können, denn sie wirken funktionslos und überflüssig und nehmen insbesondere den wichtigeren Themen – Unterdrückung, Flucht, Neuanfang, Ausbeutung der Illegalen – einen Teil der Zuwendung.
Allendes neuer Bestseller bietet den Lesern eine gut unterhaltende Mischung aus Spannung, Tragik, situativer Komik und einer Prise Mystik. Man verdirbt niemandem die Spannung und enthüllt keine unerwarteten Geheimnisse, wenn man verrät, dass das Ende Hoffnung gibt: Das Gute siegt, die Liebe zählt.
Isabel Allende wurde 1942 in Lima, Peru, geboren. Seit 1966 lebte sie mit Ehemann und Tochter Paula in Santiago de Chile, wo sie als engagierte Journalistin arbeitete. Ihr Vater ist ein Cousin von Salvador Allende (1908-1973), der 1970 Präsident von Chile wurde. Beim von den USA unterstützten Militärputsch 1973 nahm er sich das Leben. Augusto Pinochet riss die Macht an sich und errichtete eine grausame Diktatur. Seine gefürchtete Junta massakrierte Tausende. Bis heute gibt es Listen unzähliger Opfer, die nie aufgefunden wurden (»Desaparecidos«). Zwei Jahre nach dem Putsch ging Isabel Allende nach Venezuela ins Exil. Weltruhm erlangte sie als Autorin ausgezeichneter Unterhaltungsliteratur. Mit ihrem ersten Roman »Das Geisterhaus« (1982) begeisterte sie Leser in der ganzen Welt, und jeder spätere Roman eroberte erneut die Bestsellerlisten. Bei »Ein unvergänglicher Sommer« wird das nicht anders sein.