Dieser weite Weg
von Isabel Allende
Auf dem Höhepunkt des spanischen Bürgerkriegs flieht ein junger Mediziner nach Frankreich, wo er die Schrecken eines inhumanen Flüchtlingslagers erleidet, dann nach Chile, bis ihn auch dort ein gewaltsamer Militärputsch einholt und er erneut ins Exil gehen muss. Erfüllte und nicht erfüllte Liebe begleitet ihn mit Hoffnungen, Enttäuschungen und Überraschungen durch die Jahrzehnte.
Die Liebe in Zeiten von Gewalt, Krieg, Flucht und Exil
Isabel Allende ist ohne Zweifel eine herausragende Schriftstellerin, die verdientermaßen weltweit Erfolge feiert. Seit ihrem Debüt »Das Geisterhaus« hat sie über zwanzig Werke verfasst, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Dass sich Themen und Stoffe darin wiederholen, tut ihrer Beliebtheit keinen Abbruch. Immer wieder hat sie spannende Dramen von Flucht- und Freiheitsbewegungen, von politischer Verfolgung und brutaler Unterdrückung gestaltet und geschickt mit ergreifenden Schicksalen von Liebe und Leid verwoben, ohne je in die Nähe von Kitsch zu geraten.
All ihren Büchern gehen umfängliche, sorgfältige Recherchen voraus, doch zudem kann sie sich meist auf persönliche Erfahrungen und Quellen aus ihrem unglaublich prallen und wendungsreichen Leben stützen. Als Tochter eines chilenischen Diplomaten 1942 in Lima (Peru) geboren, lebte sie in Arabien, Europa, Nord- und Südamerika und arbeitete als poltisch und sozial engagierte Journalistin für Zeitschriften und das Fernsehen. Eine gravierende Wende, persönlich wie politisch, brachte das Jahr 1973, als Salvador Allende, ein Cousin ihres Vaters und seit 1970 Präsident Chiles, bei dem blutigen Putsch des Generals und späteren Diktators Augusto Pinochet ums Leben kam.
Auch Allendes aktueller Roman »Largo pétalo de mar«, den Svenja Becker ins Deutsche übersetzt hat, folgt dem bewährten Erfolgsrezept – Liebesdramen eingebettet in reale neuere Geschichte, engagierte Politik, fiktionalisierte authentische Biografien und autobiografische Bezüge –, und er ist ein erneuter Beleg ihrer unglaublichen Perfektion in Sprache, Charakterzeichnung und historischer Darstellung. Bescheiden merkt sie in ihrer Danksagung an, dieses Buch habe sich »von selbst geschrieben«, denn viele Menschen hätten ihr Inspirationen und »Material im Überfluss« vorgegeben, das sie lediglich zu Papier zu bringen brauchte.
Was wir Leser hingegen erneut als literarische Leistung der Autorin anerkennen und schätzen, ist die dichte Formung ihres Romans, dessen Handlung unentwegt vorwärts fließt und dessen emotional packende, vielfach erschütternde Szenen uns in Erinnerung bleiben werden.
Ein auktorialer Erzähler blickt zurück bis in die Dreißigerjahre und berichtet chronologisch, was sich damals und bis ins Jahr 1994 im Leben des (fiktionalen) Protagonisten, des Mediziners Víctor Dalmau, und vieler weiterer Figuren ereignet hat: Sieg des Faschismus in Europa, Flucht nach Übersee, Leben im Exil, Putsch in Chile, erneute Flucht und Exil in Venezuela, schließlich kurze Rückkehr nach Spanien und Seelenfrieden in Chile. Für Überraschung sorgen immer wieder die vielfältigen, bisweilen komplizierten emotionalen Beziehungen, die hier nicht verraten werden sollen.
Der Protagonist hat ein reales Vorbild. Den spanischen Ingenieur Víctor Pey Casado (1915-2018) hat die Autorin Ende der Siebzigerjahre in Venezuela kennengelernt, wo beide nach dem Pinochet-Putsch im Exil lebten, und sie hat seine Geschichte in engem Kontakt mit dem Hochbetagten gestaltet.
Dass Flüchtende oftmals auf heftige Ressentiments treffen und abgewiesen oder in Lagern isoliert werden, ist nicht erst ein Phänomen unserer Tage. Je unausweichlicher sich im Verlauf des Jahres 1938 der Sieg der Nationalisten unter General Franco abzeichnet, desto stärker schwillt der Flüchtlingsstrom nach Frankreich an. Auch Víctor Dalmau und seine Schicksalsgenossen sind, nachdem sie im Bürgerkrieg unfassbar Grausames erlebt (wir lesen von entsetzlichen Gräueltaten beider Seiten) und den gefährlichen Marsch über die Berge, oft von Schleppern geführt, überstanden haben, im Nachbarland Frankreich alles andere als willkommen. Ihnen schlagen rechte Vorurteile entgegen, sie seien vom Ausland finanzierte Rote, »Vergewaltiger von Nonnen, Mörder, bewaffnete Banden, skrupellose Atheisten und Juden, die die Sicherheit des Landes gefährdeten«.
Als Ort des Schreckens erweist sich das Auffanglager im französischen Argelès-sur-Mer, wenige Kilometer hinter der Grenze, wo Tausende unter erbärmlichsten Bedingungen eingepfercht sind und viele an Hunger und Krankheiten sterben. In diesem Inferno hofft Victor Dalmau, der auf der Krankenstation als Arzt aushilft, etwas über den Verbleib seiner Mutter und der hochschwangeren Verlobten seines in der Ebroschlacht (November 1938) gefallenen Bruders zu erfahren.
Aber die spanischen Republikaner haben engagierte Sympathisanten in Chile. Insbesondere der junge, bereits hoch geachtete Dichter Pablo Neruda, der Spanien ebenso sehr liebt wie er den Faschismus hasst, kann den chilenischen Präsidenten überzeugen, einige der Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Als Konzession an die Gegner dieser Maßnahme soll nur Asyl bekommen, wer charakterlich einwandfrei, gut ausgebildet, kein Politiker, Journalist oder Intellektueller ist. Organisation und Finanzierung dieser Aktion bleiben Neruda überlassen. Wochenlang bemüht er sich um finanzielle Unterstützung im In- und Ausland und reist dann nach Paris, um Ausreisekandidaten auszuwählen.
Im Lager erfährt Víctor Dalmau von Nerudas Initiative. Um ein Visum zu erhalten, heiratet er pro forma seine Schwägerin, die er durch eine Schweizer Ärztin wiederfinden konnte und die in deren Geburtsklinik inzwischen einen Jungen entbunden hat. Nachdem Neruda den Passagierdampfer »Winnipeg« gechartert hat, ist Víctor mit seiner neuen Familie unter den Glücklichen auf dem Weg ins überseeische Exil.
In Chile baut sich das pragmatische Ehepaar eine neue Existenz auf. Während seiner Frau, einer begabten Konzertpianistin, das Einleben leicht fällt, wird Víctor von traumatischen Albträumen verfolgt und leidet unter Heimweh. Wie bei Isabel Allende unumgänglich, durchlebt die Familie die politischen Wirren in Chile bis zur Präsidentschaft und dem Sturz Salvador Allendes. Victor begleitet den charismatischen linken Hoffnungsträger auf seinen Wahlkampfreisen als Arzt und spielt zur Entspannung mit ihm Schach, aber seine Empfindungen ihm gegenüber sind ambivalent: »seine Maßanzüge, sein erlesener Geschmack, der sich in den Kunstgegenständen zeigte, mit denen er sich umgab, … anfällig für Schmeicheleien und für schöne Frauen« – ein Sozialistenführer mit bourgeoisen Gewohnheiten.
Pablo Neruda, dem Literaturnobelpreisträger von 1971, erweist die Autorin ihre besondere Ehrerbietung. Jedem der dreizehn Kapitel stellt sie Verse des Dichters voran. Neruda, der sich im politischen Kampf gegen den Faschismus und gegen das Pinochet-Regime engagierte, musste selbst um sein Leben fürchten und floh drei Mal nach Paris, wo er von seinen Freunden (darunter Pablo Picasso) aufgenommen wurde.
Neben Neruda, Salvador Allende und Víctor Pey Casado erzählt der Roman von einer weiteren historischen Persönlichkeit ausführlich und würdigt ihre selbstlose Haltung und Verdienste: Die Schweizer Ärztin Elisabeth Eidenbenz eröffnete in der Nähe des Lagers Argelès-sur-Mer ein Entbindungsheim, in der schwangere Frauen und unterernährte Kinder gesund gepflegt wurden. Auch jüdischen Müttern stand sie zur Seite, wofür sie die strengen Vorschriften der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung missachtete und große Risiken für ihre eigene Sicherheit einging.