Die Liebe währet ewiglich
Lark House ist kein tristes Altersheim. Die Anlage verdient die Bezeichnung »Residenz« für Senioren in vollem Umfang. Alle Arbeit sowie maßgeschneiderte Serviceleistungen – Reinigung, Verpflegung, Fahrdienste etc. – übernehmen die hilfreichen Hände des Hauspersonals. Bibliothek, Spielsaal, Schönheitssalon, eine Werkstatt laden ein, Kurse bieten unterhaltsame Fortbildung. Wer in der Lage dazu ist – körperlich, geistig, finanziell –, der kann sich hier am Stadtrand von Berkeley an der San Francisco Bay auch in vorgerücktem Alter noch seines Lebens erfreuen und sich rundum verwirklichen. Die meisten der 250 Bewohner (Durchschnittsalter 85 Jahre) sind fit und initiativ genug, um ihre letzte, vielleicht schönste Lebensphase völlig unabhängig zu genießen. Manche tanzen zur Sommersonnenwende barfuß im Wald und umschlingen Mammutbaumstämme, andere (»Alte für den Frieden«) rücken regelmäßig mit Rollatoren, Rollstühlen, Stöcken und Transparenten vor der Polizeiwache an, um sich kämpferisch gegen Krieg und Klimaerwärmung zu empören. Manchmal zieht süßlicher Hasch-Geruch durch die Gänge wie einst im College ...
Das fidele Lark House, der geradezu humorvoll gezeichnete Ort unbekümmerten Älterwerdens, bildet den äußeren Handlungsrahmen für Isabel Allendes neuesten Roman »El amante japonés« , den Svenja Becker übersetzt hat. Hier trifft die dreiundzwanzigjährige Aushilfskraft Irina Bazili aus Moldawien die Protagonistin Alma Belasco, 82.
Vor drei Jahren hat die Lady von einem Tag auf den anderen ihre noble Villa nahe der Golden Gate Bridge verkauft, ihren Posten als Vorsitzende der Belasco-Stiftung ihrem einzigen Sohn Larry übertragen und ein nüchternes Apartment in Lark House bezogen. Hier gibt sich die alte Dame aristokratisch und hält Distanz zu den übrigen Heimbewohnern, denen sie sich offensichtlich überlegen fühlt. Sie und ihre alte Katze Neko sind einander genug. Ihr Lebenswandel gibt Anlass zu allerhand Tratsch und Rätselraten. Während der Ausflüge in ihrem »quietschgrünen Smart« scheint sie die gültigen Verkehrsregeln auf ihre eigene Weise zu interpretieren, wie man aus der Zahl von Strafzetteln, die in Lark House für sie eintrudeln, schließt. Ab und zu verschwindet sie gleich für ein paar Tage, ohne irgendwelche Angaben dazu zu hinterlassen. Am seltsamsten freilich: Einmal in der Woche erhält sie einen gelben Umschlag und ein Kistchen mit drei Gardenien – beides ohne Absender.
Als Mrs Belasco der noch etwas unbedarft wirkenden Irina eine Stelle als Privatsekretärin anbietet, kommt das einem Befehl gleich, denn Widerworte hat Alma noch nie geduldet. Wegen ihrer neuen Angestellten besucht Lieblingsenkel Seth (32) seine Großmutter etwas regelmäßiger als bisher; er verliebt sich unsterblich in Irina. Nach und nach erfahren die beiden Almas Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte, und diese bildet den Haupthandlungsstrang des Romans.
Er setzt 1939 in Danzig ein, als die siebenjährige Alma Mendel von ihren Eltern auf die lange Schiffsreise nach Kalifornien geschickt wird. Dort soll sie bei ihren wohlhabenden und angesehenen Verwandten, der Familie Belasco, unterkommen. Ihre Hauslehrerin begleitet sie, dennoch überwindet das Kind die Trennung nie. Tage und Nächte weint sie, versteckt in ihrem Kleiderschrank. Einzig Cousin Nathaniel, 14, »bleich, dünn und lang wie ein Reiher«, findet Zugang zu dem introvertierten Mädchen und wird ihr vertrauter Freund. Die Eltern überleben den Holocaust nicht.
Ein japanischer Gärtner, Takao Fukuda, pflegt die Parkanlage der Belascos in San Francisco. Er bringt seinen zierlichen, aber kräftigen Sohn Ichimei mit, damit er ihm zur Hand geht. Der gleichaltrige Junge wird zu Almas titelgebendem »japanischen Liebhaber«. Aber erst einmal verhindert der Kriegsverlauf, dass die beiden ihre Kinderliebelei ausleben dürfen. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor (im Dezember 1941) werden über hunderttausend japanischstämmige Einwanderer, zwei Drittel davon US-Staatsbürger, unter pauschalem Spionageverdacht von der Westküste in »War Relocation Centers« im Landesinneren interniert, darunter auch die Familie Fukuda. Alma und Ichimei versprechen einander, regelmäßig zu schreiben, doch wiedersehen werden sie sich erst viele Jahre später.
Ihre Liebe entbrennt erneut, nun voller erwachsener Leidenschaft, als die beiden 1955 zufällig aufeinandertreffen. Die Stimmung im Land zwingt sie, ihre Beziehung verborgen zu halten. Als Alma schwanger wird, muss sie eine schwere Entscheidung treffen.
Obwohl die politischen Umstände, Ichimeis Persönlichkeit und Almas eigene durchwachsene Charaktereigenschaften dazu führen, dass die beiden keine Ehe miteinander eingehen, besteht ihre Liebe weiter, »beschützt vor den Abnutzungen durch die Welt und unbeschadet für den Rest unseres Lebens und über den Tod hinaus« ...
Man ahnt es schon: Da hat die routinierte, erfolgsverwöhnte Bestsellerautorin Isabel Allende sämtliche bewährten Früchte in ihren Standmixer geschnipselt und daraus ein süßes Smoothie angerührt. Zu den hier angedeuteten Sorten – von Glück und Unglück in der Liebe über die scharfen Sachen (Holocaust, Internierungslager, Rassismus) bis zu hübscher Deko (Blüten des Seniorendaseins) – würzt noch ein ganzer Korb weiteren Obstes den Cocktail: Aids, Demenz, Homosexualität, Inzest, Kindesmissbrauch und -pornografie, Prostitution versklavter osteuropäischer Frauen, Sterbehilfe ... Da tropft viel Kitsch, Klischee und Schmalz aus den Seiten (»Ichimei habe es verdient, dass man ihn bedingungslos liebte, er sei ein wunderbarer Mann, ein Weiser, ein Heiliger, eine reine Seele, ein einfühlsamer und zärtlicher Liebhaber, in seinen Armen sei sie glücklich, sprudelte es aus ihr heraus, und sie musste sich schnäuzen, um nicht in Tränen auszubrechen und um einen Rest Haltung zu bewahren.«). Wem vom Übermaß an Zucker nicht die Zähne schmerzen (»Manchmal tut die Liebe weh.«), der wird sich an Isabel Allendes romantischer Geschichte erfreuen, denn sie fesselt von Anfang bis Ende und ist wie immer lebendig, detailliert und flüssig erzählt.