Gefangener seiner Angst-Paranoia
Der zwölfjährige Pablo wird von seinem Klassenkameraden Javier erpresst. Blutergüsse auf seinem Körper zeugen von Prügeln und Fußtritten. Aus Pablos Kinderzimmer verschwinden nach und nach Rollschuhe, Tennisschläger, Turnschuhe, DVDs und anderes, was Pablo im Rucksack heimlich aus dem Haus schafft und nach dem Unterricht seinem Peiniger übergibt.
Mutter Sara wundert sich, denn seit einiger Zeit vermisst sie Geld, später Schmuck und andere Wertgegenstände. Sie verdächtigt die marokkanische Putzfrau und kündigt ihr fristlos, obwohl sie stets zuverlässig war und ihre Unschuld beteuert.
Dann kommt die wahre Geschichte ans Licht. Carlos, der immer schon überbesorgte Vater, wird die Sache für seinen Sohn aus der Welt schaffen. Er sucht ein Gespräch mit dem Schuldirektor und wendet sich an die Polizei. Doch die kann nichts gegen Javier ausrichten, denn der ist ebenfalls erst zwölf und somit nicht strafmündig. Also muss Carlos wohl selber handeln, sich den Knaben mal richtig zur Brust nehmen, ihm klar machen: Bis hierhin und nicht weiter ...
Der Plot könnte jetzt einen alltäglichen Verlauf nehmen: Vater und Mutter verteidigen ihr Kind gegen Gefahren von Außen. Doch Carlos ist paranoid seinen Ängsten ausgeliefert, steigert sie in seiner Einbildung selbstquälerisch bis aufs Äußerste – und bedürfte eigentlich psychiatrischer Hilfe. Aber er kann sich nicht einmal seiner Frau öffnen, denn dann würde er in ihren Augen zu dem, was er in Wirklichkeit auch ist: ein Schwächling, ein Weichei. So nutzt er eine auch in der Psychiatrie angewandte •selbst-) therapeutische Methode: Er schreibt all seine Nöte "im Reich der Angst" – im Gegensatz zum "Reich der Freude" – auf.
Autor Isaac Rosa entwickelt daraus eine Art Enzyklopädie aller Typen und Auswüchse von Angst. Er ergänzt jede Art von Phobie in Carlos' monologisierenden Gedanken zu einem vollständigen Katalog. Eingefügte Auszüge aus offiziellen Quellen geben dem psychologischen Roman ein Sachbuch-Gerüst:
S. 176 ff.: Ratschläge des spanischen Innenministeriums "zu Ihrer Sicherheit: Auf der Straße ... Zum Schutz von Minderjährigen ..." usw.;
S. 201 ff.: "Selbstverteidigung";
S. 282 ff.: "Reise- und Sicherheitshinweise des Spanischen Außenministeriums für die Republik Guatemala" u.a.
Derlei eigentlich hilfreich-informativ intendierte Zusammenstellungen lösen jedoch bei Carlos erneute Ängste aus, denn sie machen ihm mögliche Gefahren erst richtig bewusst.
Carlos ist nicht der einzige Mensch, der sich vor Menschenbanden aus Osteuropa, afrikanischen Kriminellen und undurchschaubar Fremdem ängstigt. Doch er fürchtet sich sogar vor der Polizei, den Ordnungshütern, die, so gibt er zu bedenken, das Gewaltmonopol besitzen. In ihrem täglichen Kampf gegen das Verbrechen werden sie am Ende selbst zu Verbrechern, wenden Gewalt missbräuchlich an, werden zu Sadisten und Folterern. Carlos malt sich aus, welche Ängste solch ein Polizeiopfer durchlebt, das einer Verhörsituation ausweglos ausgeliefert ist: Der bloße Anblick eines harmlosen Alltagsgegenstands – eines Espressolöffels oder einer Zange -, der in den Händen der Peiniger zu einem Folterinstrument werden könnte, genügt schon, um die Phantasie zu aktivieren, sich unsägliche Schmerzen vorzustellen, an den Rand des Wahnsinns zu geraten, zusammenzubrechen. Carlos behauptet, dass derlei imaginäre Schmerzen noch viel unerträglicher seien als tatsächlich während einer Folter zugefügte.
Dabei ist Carlos in der Realität noch nie etwas Übles passiert. Allein in seiner Phantasiewelt der Phobien gelangt er an Orte, die man besser meiden sollte. Nicht auszudenken, was einem in Tiefgaragen, U-Bahnen, auf öffentlichen Toiletten, in Unterführungen, besonders allein und im Dunklen alles passieren kann: Man könnte sich verfolgt, geschlagen, misshandelt, gewürgt, gelyncht, vergewaltigt finden. Es sind wahre Abgründe, in die uns der Autor durch Carlos' breit differenzierte sozio-psychologische Gedankenwelt schauen lässt, ein gigantisches Spektrum, das vielleicht auch in uns Lesern Ängste zu wecken vermag, die uns bisher unbekannt waren ... Nicht einmal im Schlaf findet er Ruhe; schweißüberströmt wird er aus Albträumen gerissen, in denen Einbrecher neben seinem Bett stehen, ihn sadistisch quälen, seine Frau vergewaltigen.
Gefangen in seinen Horrorvisionen, doch abgelöst von der Realität kommt Carlos also seinen Vater-Aufgaben nach. Er beobachtet seinen Sohn von nun an ständig, um ihn vor Javier und seinen Motorradkumpanen zu schützen. Aber er ist nur vorgeblich stark, kann sich der Konfrontation nicht wirklich stellen. Mit seinen unsicheren, inkonsequenten Drohungen provoziert er den Gegner geradezu. Als feiger Schwächling ist er das ideale Opfer und wird im weiteren Verlauf der Handlung nun ebenfalls von Javier systematisch erpresst – woraufhin sich in seiner Gefühlswelt umso größere Angst vor eskalierenden Folgen auftürmt. Er glaubt sie vermeiden zu können, indem er allenfalls halbherzig Widerstand leistet und Javiers immer dreister werdende Forderungen erfüllt. Letztlich fördert er durch dieses Verhalten die Kleinkriminalität des ihm an Jahren und Intelligenz unterlegenen Jungen; im weitesten Sinne macht sich Carlos, das Opfer, mitschuldig.
Carlos kann für jeden von uns stehen, vielleicht sogar für eine schwache Gesellschaft, die sich gegen Bedrohungen nicht entschieden genug zur Wehr setzt. Indem Carlos aus seiner selbst erzeugten hypnotisierenden Spirale der unendlichen Angst keinen Ausweg mehr findet, die Kontrolle verliert, agiert er im Reich der Angst anstatt in der Realität, als unberechenbarer, lebensbedrohlicher Täter anstatt als rationaler Problemlöser.
Der Autor Isaac Rosa, 1974 in Sevilla geboren, wurde 2005 mit dem wichtigsten lateinamerikanischen Literaturpreis "Premio Rómulo Gallego" ausgezeichnet.