Schippern in flachen Gewässern
… und täglich geht einer über Bord. Gern haben Ellen und Tochter Amalia die Einladung des Halbbruders Gerd zu einer Mittelmeerkreuzfahrt angenommen. Ellen Tunkel ist geschieden, steckt mitten in den Wechseljahren und hätte sich mit ihrem Gehalt als Angestellte im Einwohnermeldeamt nie eine solche Reise leisten können. Die 24-jährige Amalia ist Arzthelferin und lebt noch bei Muttern. Die Dritte im Wohnbunde ist die verwitwete Großmutter Hildegard, die neben Ellen noch vier weitere Kinder großgezogen hat. "Nonnenhaus" nennt der Volksmund die schwer sanierungsbedürftige alte Villa Tunkel, Baujahr 1902, in der die eingeschworene Frauengemeinschaft haust.
Vor kurzem ist Gerd aufgetaucht und hat das scheinbare Familienidyll schwer durcheinandergewirbelt. Er behauptet nämlich, er sei der Sohn von Hildegards verstorbenem Mann Rudolf, somit Ellens Halbbruder. Ellen kann es zwar kaum fassen, doch Mutter gesteht nicht nur, immer vom Seitensprung ihres Gatten gewusst zu haben, sondern sogar von dem anschließenden Männer-Deal: Mit dem starken Argument einer großzügigen Zuwendung hat Rudolf einen Freund überzeugen können, das Objekt seiner kurzen Liebesbeziehung – Gerds Mutter – zur Frau zu nehmen.
Aber die gute Hildegard hatte es noch faustdicker hinter den Ohren: Sie hat sich obendrein auf einen one-night-stand eingelassen, um auf ihre Art Rache zu üben. Indes, da lag sie falsch: Das Techtelmechtel war gemein eingefädelt, Hildegard nur Spielball in einer Wette. Das Kuckuckskind – Ellen – ist bis heute ihre Prinzessin, und im Erbfall geht die traditionsreiche Villa, sofern die alte Hütte nicht vorher zusammenbricht, an niemand anderen.
Nun stechen sie in See. Angesichts der finanziellen Umstände haben sich Ellen und Amalia für den Anlass adäquate Kleidung ausgeliehen und eine Innenkabine bezogen, während Gerd und Frau Ortrud es sich in der besseren Kategorie gemütlich machen.
Amalia ist ständig on tour, immer auf der verzweifelten Suche nach jungen Leuten, aber der Liner beherbergt offensichtlich nur best-agers. Ellen hingegen hegt die Hoffnung, in dieser wohlsituierten Gesellschaft an Bord eine gute Partie zu finden. Eine naheliegende Option dafür wäre Gerd. Ellen vermutet, dass er es nicht mehr lange mit Ortrud aushalten wird. Entweder ist sie volltrunken, oder sie qualmt wie der Schlot ihres tuckernden Dampfers, oder sie nervt ihre Umgebung mit ihrer Angeberei als Innenarchitektin für die Haute Volaute. Diese Zeiten sind aber längst vorüber. Doch während Ellen sich Gerd anbiedert, hat dieser ganz andere Pläne …
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Seit anno 1993 hat die Krimi-Lady Ingrid Noll mit ihrem Debüt Der Hahn ist tot Hunderttausende Leser begeistert. Dieser Roman ist – wie noch mancher folgende – psychologisch dicht, spannend und mit köstlicher Ironie abgefasst. Seine Protagonisten bewegen sich zwar voller Heimtücke und Hinterlist in ihrer Gesellschaft, doch versprühen sie ihr Gift auf amüsant unbeholfene Weise und sind vor allem Alltagsmenschen, die man einfach gern haben muss und mit deren Nöten, Ansichten und Überlegungen man sich geradezu identifizieren kann …
Schreiben kann Ingrid Noll immer noch. Sie hat eine gute Beobachtungsgabe, kann Menschen gut analysieren und ihre Charaktere glaubhaft konzipieren und süffisant darstellen. Aber der Stachel ist stumpfer geworden: Heute schreibt sie liebenswürdiger, und das Bitterböse, das Sarkastische, das Raffinierte ist ihr leider abhanden gekommen.
Ihr neuester Roman "Über Bord" ist allemal vergnügliche, leichte Unterhaltungskost, die jeder gern lesen wird. In der wunderschönen blau gebundenen Leinenausgabe von Diogenes ist es ein edles Buch und als hübsches Mitbringsel geeignet.