Der Preis des Todes
von Horst Eckert
Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft, Lobbyismus im Gesundheitswesen, Flüchtlinge als Ressource, Macht und Einfluss der Medien – und die Aufklärung zweier Morde und anderer Verbrechen
Auf Kosten der Ärmsten
Sarah Wolf ist eine fiktionale Kollegin von Anne Will, Sandra Maischberger und Frank Plasberg. Sie steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für ihre noch junge Talkshow aus dem ARD-Hauptstadtstudio. Ihre Ziele sind hehr. Den Jahrmarkt der Eitelkeiten im Fernsehen, das Sehen und Gesehen-Werden und das Floskel-Pingpong hat sie satt. Ihr geht es um die Menschen hinter den Politiker-Fassaden. Sie möchte sich in ihrer Sendung ihrem Gegenüber so weit annähern, dass der Machtmensch seine Gewohnheit aufgibt, Missstände im Land schönzureden und Verantwortlichkeiten zu vernebeln, und stattdessen Farbe bekennt, auch »Fehler eingesteht«.
Im permanenten Wettstreit um die Einschaltquoten müssen attraktive Gäste zusagen und über ein kontroverses Problem diskutieren, das den Leuten unter den Nägeln brennt. Für die nächste Runde bei »Sarah Wolf« lautet das Thema: »Der Staat im Griff der Lobbyisten – das Ende unserer Demokratie?« Das Redaktionsteam schlägt als Talk-Gast einen Politiker vor, den die Medien wegen vermuteter allzu großer Affinität zur Lobby im Visier haben: Christian Wagner, Bundestagsabgeordneter und Spezialist für Gesundheitspolitik.
Dass die Gastgeberin auch ein Privatleben hat, ist legitim, soll aber die Karriere nicht stören. Deswegen darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen, dass sie neuerdings eine Beziehung zu eben diesem Herrn unterhält.
Doch zu der pikanten Begegnung vor laufenden Kameras wird es nicht kommen. Man findet Christian Wagner erhängt in seiner Berliner Wohnung. Haben ihn die jüngsten Veröffentlichungen seiner engen Verflechtungen mit dem Krankenhausbetreiber Samax AG, die sich mit seinem Amt als Staatssekretär im Gesundheitsministerium so gar nicht vereinbaren lassen, derart in die Enge getrieben, dass er nicht nur seine politische Karriere, sondern gleich sein Leben aufgab? Sarah Wolf mag daran nicht glauben. Sie will der Wahrheit, wer ihr Geliebter wirklich war, selber auf die Spur kommen.
Indessen wurde in einem Düsseldorfer See eine weibliche Leiche entdeckt. Das Geschoss eines Kleinkalibergewehrs hat etwa vier Wochen zuvor den Schädel der Frau durchschlagen. Sie wird als Johanna Kling identifiziert, die als Referentin für die Hilfsorganisation »Humanity First International« gearbeitet und auch Kontakte zu Christian Wagner hatte.
Damit kommt Paul Sellin ins Spiel, der für Vermisstenfälle zuständige Kriminalhauptkommissar. Er ist zwar Sarah Wolfs Vater, aber seit er zwei Jahrzehnte zuvor seine Familie verließ, hat seine Tochter ein distanziertes Verhältnis zu ihm. Den Fall Kling rasch aufzuklären ist ihm eine besondere Herausforderung, denn er weiß, dass eine Krankheit seiner Lebenszeit eine Grenze gesetzt hat.
Neben der Kripo recherchiert die prominente TV-Moderatorin auf eigene Faust. Was hatte die junge Menschenrechtsaktivistin mit Christian Wagner zu tun, was verband den Bundestagsabgeordneten mit dem Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, und was hat die Samax AG dort zu suchen? Sie kann auf einen Kreis weitgehend loyaler Mitarbeiter zählen und findet Verbündete in Christian Wagners Umfeld, muss aber auch gegen etliche Widerstände ankämpfen. Um verlässliche Antworten auf ihre Fragen zu finden, fliegt sie nach Afrika und sieht sich in den Krankenstationen des gigantischen Lagers um.
Aus den beiden Todesfällen, mit denen sich der erste der vier Teile dieses Politkrimis beschäftigt, entwickelt der Journalist und Politikwissenschaftler Horst Eckert einen Plot, dessen Faszination sich aus mehreren Quellen speist. Natürlich will der Leser erfahren, wie die Toten ums Leben kamen und warum. Man ahnt aber, dass viel Größeres und Dramatischeres dahinter steckt. Deswegen lesen wir die Beobachtungen in Kenia (im dritten Teil) zunächst unter dem Krimi-Aspekt und forschen nach Zusammenhängen mit den Morden. Doch dann gewinnen die Einblicke in die politischen und sozialen Zustände in dem Entwicklungsland ihre eigene Dynamik und fesseln uns um ihrer selbst willen. Trotz der eigenen Armut beherbergt das Land in Dadaab seit über zwei Jahrzehnten rund 250.000 Menschen auf der Flucht, vor allem aus dem Bürgerkriegsland Somalia. Sie werden politisch allenfalls geduldet und hausen in ihrer improvisierten Stadt unter teilweise katastrophalen Bedingungen. Die chaotischen Umstände bar jeder Kontrollen sind ein verlockendes Betätigungsfeld für die unterschiedlichsten Initiativen, und der großartige Erzähler Horst Eckert vermag sowohl die Atmosphäre dieser schillernden, turbulenten Welt als auch die Machenschaften seiner Akteure darin packend zu schildern.
Dies ist also ein thematisch komplexer Krimi, der in seiner fiktiven Handlung den Medienzirkus, die Nähe zwischen Medienstars und Politik und zwischen Politik und Wirtschaft kritisch beleuchtet und globale Vernetzungen aufdeckt. Er erzählt wendungsreich, manchmal sprunghaft, und illustriert filmreif, was seriöse Journalisten und Dokumentationen längst belegt haben: Für die Öffentlichkeit kaum durchschaubare Konzerne verfolgen ihre Wirtschaftsinteressen rücksichts- und mitleidlos und beuten zu diesem Zweck selbst die Ärmsten der Welt aus – deren Leben ist »der Preis des Todes«.