Albert muss nach Hause: Die irgendwie wahre Geschichte eines Mannes, seiner Frau und ihres Alligators
von Homer Hickam
Da sträuben sich einem doch die Schuppen!
Mit zwei Jahren ist ein Alligator 1,40 Meter lang. Die Oberseite seines muskulösen Leibes zieren lange Reihen olivgrün schimmernder Schuppen, sein Bauch ist hell und weich. Wenn die ruppigen Zahnreihen im weit aufgerissenen Maul aufblitzen und die Äuglein golden glänzen, könnte man glauben, er grinse einen an. Bis die Kiefer zuschnappen wie ein Bärenfangeisen. Eine solche Bestie als zahmes Haustier? Was für ein Quatsch.
Aber Homer Hickam, amerikanischer Raketeningenieur und Schriftsteller (Jahrgang 1943), schafft es, aus dieser Schnapsidee einen bezaubernden Unterhaltungsroman zu entwickeln, der erfreulicherweise mehr bietet als die platte Verniedlichung eines Reptils. »Carrying Albert Home« (übersetzt von Wibke Kuhn) ist ein erzähltes Roadmovie voller irrwitziger Abenteuer, die immer weiter vom Boden der Realität abzuheben scheinen. Doch wenn die Mission am Ende abgeschlossen ist, bleibt als Kern eine anrührende, kitschfreie Liebesgeschichte.
Was der Autor uns erzählt, ist die (angeblich wahre) Dreiecksbeziehung, die die frühen Ehejahre seiner Eltern prägte. Elsie und Homer senior sind beide in Coalwood, West Virginia, aufgewachsen, einer Bergbaustadt, der jeder gern den Rücken kehren würde, wenn er denn eine Wahl hätte. Die Arbeit unter Tage ist gefährlich, gesundheitsschädlich und schlecht bezahlt, das Leben über Tage ein unendlicher Kampf gegen Staub, Krankheiten und Angst. Als sich Elsie die Chance bietet, bei ihrem reichen Onkel Aubrey eine Ausbildung zu machen, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopfe und entflieht nach Florida. Dort lernt sie Buddy Ebsen kennen und verliebt sich unsterblich in ihn – doch der erhofft sich eine Showbiz-Karriere in New York, und weg ist er. Frustriert kehrt Elsie ins elende Coalwood zurück und heiratet den Bergmann Homer, mehr Notnagel als Mann ihrer Träume.
Eine Woche nach der Hochzeit erreicht Elsie ein verschnürter Schuhkarton mit Luftlöchern, darin ein knapp zehn Zentimeter langes Alligatorbaby und eine Glückwunschkarte: »Hier ist etwas aus Florida für dich. Alles Liebe, Buddy.« Von da an sind Elsies Gedanken erst recht unentwegt bei dem schon verflossen Geglaubten, der doch wieder von »Liebe« schrieb, und all ihre Zuwendung schenkt sie (in Ermangelung des eigentlichen Adressaten) Albert, dem »goldigen« neuen Hausgenossen.
Einfach niedlich, wie »der liebe kleine Junge« seinem Frauchen brav durch Haus und Garten folgt, bis sie ihm zur Belohnung ein Henderl als Leckerli in den Rachen schiebt. Zu putzig, wenn das zweifelsfrei kluge Geschöpf Laute von sich gibt, als wolle es »Yeah-Yeah-Yeah« oder auch »No-No-No« sagen. Allerliebst, wie er voller Wonne seine Pranken hebt, wenn Elsie ihn an seinen sensiblen Zonen krault. Und wie süß: Weil Albert so große Angst vor Gewittern hat, darf er in Elsies Bett Zuflucht suchen und muss nicht in seinem Betonpool im Garten zittern.
Disney-Latein? Das ist erst der Anfang. Denn Homer lässt sich zwar allerhand gefallen (ein »Schlappschwanz«), aber nicht alles. Als Albert ihm eines Tages die Hose wegschnappt, ist zuviel Todesangst und Eifersucht aufgelaufen, und er stellt Elsie ein Ultimatum: »Ich oder der Alligator.« Dass sie dem Plan, Albert in seine Heimat zurückzubringen, schließlich zustimmt, ist keineswegs ein Beweis ihrer Liebe zu Homer. Vielmehr spekuliert sie darauf, in Florida Buddy Ebsen noch einmal zu begegnen. Und wenn nicht, gelingt es ihr vielleicht wenigstens, Homer vor Augen zu führen, dass jeder beliebige Ort unterwegs besser ist als Coalwood ...
So treten Elsie und Homer1935 in ihrem vollgepackten zehn Jahre alten Buick Phaeton die 1200 Kilometer lange Fahrt nach Süden an. Auf der Rücksitzbank räkelt sich Albert gemütlich in einer Badewanne, jeder Stauraum ist mit Lebensmittelvorräten ausgefüllt, und irgendwie hat sich auch noch ein mysteriöser Gockel als blinder Passagier an Bord geschlichen.
Die »abenteuerliche und gefährliche Reise«, die statt zwei Urlaubswochen am Ende Jahre dauert, ist der eigentliche Stoff dieses liebenswert versponnenen Romans. Da Elsie und Homer ihrem Sohn zu verschiedenen Anlässen immer wieder neue und immer dollere Episoden auftischen (so jedenfalls erklärt uns Autor Homer Hadley junior die Entstehungsgeschichte), ereignen sich immer skurrilere Dinge. Das maximal diversifizierte Quartett schmuggelt Selbstgebrannten durch North Carolina, gerät in einen Banküberfall, wird in einem Baseballspiel eingesetzt, spielt in einem Tarzan-Film mit, erbt beinahe ein Millionenvermögen, droht im Atlantischen Ozean verlorenzugehen und wird, als am Ende ein Hurrikan aufzieht, fast von den Keys geblasen. Unterwegs treffen sie auf illustre Personen wie John Steinbeck, dem sie mitten hinein in die sozialen Unruhen in den Textilfabriken des Südens folgen, und auf Key West lädt Ernest Hemingway sie zum Abendessen ein. Als running gag läuft der Reisetruppe immer wieder ein düsteres Gangsterduo über den Weg, das festzusetzen der Polizei einfach nicht gelingen will.
Für Elsie und Homer wird die abenteuerliche Flucht nach Florida zu einer Reise zu sich selbst: Am Ende haben die Eltern Hickam einander schätzen und lieben gelernt.
Wer unterdessen wem einen Alligator aufbindet und das Blaue vom Himmel herunter flunkert, tut nichts zur Sache. Wir werden einfach köstlich unterhalten (allenfalls etwas zu langatmig) und haben am Schluss alle Menschen und Tiere liebgewonnen. Schade nur, dass wir den kleinen Albert nicht auch mal kraulen dürfen ...