Rezension zu »Treue« von Hernan Diaz

Treue

von


Vier Biografien braucht es, um einen fiktiven Börsenguru der Zwanzigerjahre in all seiner Komplexität, faszinierenden Ungeheuerlichkeit und Widersprüchlichkeit zu spiegeln.
Belletristik · Hanser · · 416 S. · ISBN 9783446273757
Sprache: de · Herkunft: us

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Kapital und Wahrheit

Rezension vom 26.10.2022 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Eigenartig, welche Faszination mächtige, durch­setzungs­starke und erfolg­reiche Charak­tere seit jeher ausüben, und seien sie und ihre Machen­schaften noch so perfide. Der amerika­nische Autor Hernan Diaz fügt der langen Reihe nun ein weiteres (fiktives) Exemplar hinzu und setzt sein Porträt aus gleich vier Bio­grafien zusammen. So unter­schied­lich wie deren Autoren, Motiva­tionen und Inten­tionen ist das Bild, das sie entwerfen, und wir Leser sehen uns vor anspruchs­volle Aufgaben gestellt, wenn wir bei all den Wider­sprüchen und Kon­flikten jemals zu des Pudels Kern vor­dringen wollen.

»Treue« von Hernan Diaz ist ein perfektes literari­sches Konstrukt, ein genial viel­schichti­ges Erzähl­werk aus verschie­denen Perspek­tiven in jeweils anderem Stil und Ton. Aus den zahl­reichen, zunächst kaum verständ­lichen Puzzle­stein­chen formieren sich vorerst unzu­sammen­hän­gende Stränge, die sich erst am Ende zu einem Gesamt­bild fügen. Bis dahin wachsen Unsicher­heit und Unbe­hagen des Lesers ange­sichts der Rätsel, wir werden in einen Sog unge­heuer­licher, uner­gründ­licher Vorgänge hinein­gerissen, und der sich festi­gende Span­nungs­bogen hält bis zum letzten Satz an.

Schon der englische Originaltitel spielt mit Mehr­deutig­keit, die rundum zum Plot passt. Bei »Trust« denkt man an »Vertrauen«, aber auch an etliche Begriffe aus dem Wirt­schafts­bereich, wie z.B. »Ver­mögens­verwal­tung« oder »Treuhand«. Für die deutsche Ausgabe (Hannes Meyer hat den Text übersetzt) hat man einen ein­sinnige­ren Begriff gewählt, der außerdem andere Bedeu­tungs­bereiche evoziert als die Börsen­geschäfte des Protago­nisten.

Im Mittelpunkt des Ganzen steht einer, den man heute als Finanz­guru bezeich­nen würde. Durch Ziel­strebig­keit, Ego­zentrik, Clever­ness und Risiko­freude hat Andrew Bevel in den Zwan­ziger­jahren uner­mess­liche Reich­tümer angehäuft und kann selbst nach dem großen Zu­sammen­bruch der Welt­wirt­schaft noch als Gewinner auf all die igno­ranten Klein­anleger herab­schauen, deren Existenz ruiniert wurde. Der Börsen-Plot zieht sich, wenn auch perspek­tivisch gebrochen, durch alle vier Ab­schnitte des Romans, dennoch steht die Wirt­schaft nicht im Fokus des Inter­esses. Die Lektüre bedarf auch keiner Vorbil­dung im Wert­papier-ABC, denn alle Vorgänge des Aktien­handels sind verständ­lich beschrie­ben, sowohl durch die jewei­ligen Erzähler als auch durch den Protago­nisten selbst. Dessen Ansichten sind freilich mit Vorsicht zu genießen. Dass der Crash »heilsam« gewesen sei, dass die eigenen Leer­verkäufe und andere Aktionen »Amerika gerettet« hätten, kann nur einer behaupten, der unge­schoren davonkam und besonders unver­froren urteilt.

»Verpflichtungen« ist der Titel des ersten Teils des Romans. Es ist eine Fiktion in der Fiktion, ein veri­tabler Roman im Roman. Sein (ebenfalls fiktiver) Autor heißt Harold Vanner, seine Protago­nisten sind das kinder­lose Ehepaar Benjamin Rask und Helen Brevoort. Die Handlung verbindet zwei brisante Schlacht­felder: das nerven­aufrei­bende Börsen­parkett und das aal­glatte Parkett ihres Ehe­lebens.

Benjamin Rask hat schon in jungen Jahren begonnen, in Aktien zu inves­tieren, und dank untrüg­licher Intuition, soliden Kennt­nissen und Klugheit kann er das von seinen Vorfahren ererbte Vermögen verviel­fachen. Bei Ausbruch des Ersten Welt­kriegs etwa steigt er in »kriegs­rele­vante Sektoren« ein. Unge­achtet seines Reichtums versagt sich der intro­vertierte Mann allen Ver­lockun­gen des Lebens – kein Sport, kein Alkohol, kein Nikotin, und selbst bei Frauen ist er nur ein »lauer Liebhaber«. Erst in der Mitte seines Lebens verspürt er »ein trübes Gefühl ge­nealogi­scher Verant­wortung« und zieht »eine Ehe in Betracht«. Seine Auser­wählte, Helen Brevoort, stammt aus altein­gesesse­ner New-England-Familie, ange­sehen, aber in Würde verarmt. Helens Mutter trium­phiert ange­sichts der schicksal­haften Fügung. Sie lässt nicht nur auf die für immer verloren geglaubte Finanz­basis der lieb­gewon­nenen Annehm­lich­keiten ihres Lebens­wandels hoffen, sondern auch auf die Wahr­werdung einer Vision, dass hier zwei einsame Seelen vereint würden, die sich gegen­seitig ergänzen und »erfolg­reich bein­flussen« werden.

Das Ehepaar Rask-Brevoort führt ein Leben auf zwei Gleisen. Während Benjamin, soweit es ihm möglich ist, die Öffent­lich­keit meidet, genießt Helen ihre Rolle als groß­zügige, enga­gierte Mäze­natin. Im eigenen Haus gibt sie Künstlern eine Plattform, wo sie sich einem erlesenen Kreis Vermö­gender präsen­tieren können, und sie fördert Programme zugunsten sozial Schwacher. Doch eine psychi­sche Erkran­kung Helens beendet die glanz­volle Zeit. Benjamin scheut weder Mühen noch Kosten, um seine geliebte Frau wieder gesunden zu lassen – nur darf nichts von der Krankheit an die Öffent­lich­keit dringen. Die gruse­ligen Behand­lungs­experi­mente der Zeit überlebt Helen nicht.

Harold Vanners Roman »Verpflich­tungen« wird zum Best­seller, zumal die Glamour-Story kaum verheim­lichen kann, dass sie das wenig bekannte Leben Andrew Bevels und seiner Frau Mildred reiße­risch aufbe­reitet. Eine derartige Blamage kann der Börsen­milliar­där unmög­lich auf sich sitzen lassen. Um die falschen Dar­stellun­gen eines daher­gelau­fenen Schreiber­lings auszu­löschen, kauft er sämtliche Exemplare des Ruf schädi­genden Mach­werks auf. Gleich­zeitig greift er selbst zur Feder und konzi­piert seine Auto­bio­grafie (»Mein Leben« – der zweite Teil von Hernan Diaz’ Roman). Er skizziert die Vorge­schichte seiner Ahnen, seine »frühen Jahre«, sein Eheleben mit Mildred, aber die Text­gestalt ist unein­heit­lich, die Inhalte sind unvoll­ständig. An seinem schrift­stelleri­schen Talent zweifelnd, macht sich Andrew auf die akribi­sche Suche nach einem Profi-Ghost­writer.

Den Zuschlag bekommt Ida Partenza, Tochter eines aus Italien geflo­henen Kommu­nisten. Selbst eine begnadete Lügnerin, kann sie mit ihrem Opus »Erinnerte Memoiren« (der dritte Teil von Hernan Diaz’ Roman) die Vita des genialen Finanz­jong­leurs und seine hin­gebungs­volle Partner­schaft ideali­sieren und in die von ihrem Geld­geber ge­wünsch­ten gülde­nen Farben guter Literatur tauchen.

Zwar gelang es Ida Partenza bei ihren Recher­chen nicht, noch eine Aus­gabe von Harold Vanners Buch aufzu­treiben, doch sie entdeckte Wichti­geres: ein Tagebuch von Mildred Bevel, schwer zu ent­ziffern, aber auf­schluss­reich. Dieses bildet unter dem Titel »Ver­einbarun­gen« den vierten und ab­schließen­den Teil des Romans von Hernan Diaz und öffnet uns die Tür zum Geheimnis der Ehepaars und zu ihrer in Wahrheit eiskalten Beziehung.

Hernan Diaz’ raffinierter Roman beeindruckt durch die Kom­plexität seiner Struktur ebenso wie durch seine Sprach­virtuosi­tät. Die Charak­teristi­ken der zahl­reichen Haupt- und Neben­figuren sind mit ihrer viel­schichti­gen Emotio­nalität diffe­renziert ausge­feilt. Für gute, berei­chernde Unter­haltung sorgen außer­dem die Ein­blicke in den Aktien­handel sowie die authen­tische Ein­bettung der Hand­lung in ein be­wegen­des histori­sches Zeitge­schehen, inklu­sive un­verkenn­barer Bezüge zur Gegen­wart.


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