Treue
von Hernan Diaz
Vier Biografien braucht es, um einen fiktiven Börsenguru der Zwanzigerjahre in all seiner Komplexität, faszinierenden Ungeheuerlichkeit und Widersprüchlichkeit zu spiegeln.
Kapital und Wahrheit
Eigenartig, welche Faszination mächtige, durchsetzungsstarke und erfolgreiche Charaktere seit jeher ausüben, und seien sie und ihre Machenschaften noch so perfide. Der amerikanische Autor Hernan Diaz fügt der langen Reihe nun ein weiteres (fiktives) Exemplar hinzu und setzt sein Porträt aus gleich vier Biografien zusammen. So unterschiedlich wie deren Autoren, Motivationen und Intentionen ist das Bild, das sie entwerfen, und wir Leser sehen uns vor anspruchsvolle Aufgaben gestellt, wenn wir bei all den Widersprüchen und Konflikten jemals zu des Pudels Kern vordringen wollen.
»Treue« von Hernan Diaz ist ein perfektes literarisches Konstrukt, ein genial vielschichtiges Erzählwerk aus verschiedenen Perspektiven in jeweils anderem Stil und Ton. Aus den zahlreichen, zunächst kaum verständlichen Puzzlesteinchen formieren sich vorerst unzusammenhängende Stränge, die sich erst am Ende zu einem Gesamtbild fügen. Bis dahin wachsen Unsicherheit und Unbehagen des Lesers angesichts der Rätsel, wir werden in einen Sog ungeheuerlicher, unergründlicher Vorgänge hineingerissen, und der sich festigende Spannungsbogen hält bis zum letzten Satz an.
Schon der englische Originaltitel spielt mit Mehrdeutigkeit, die rundum zum Plot passt. Bei »Trust« denkt man an »Vertrauen«, aber auch an etliche Begriffe aus dem Wirtschaftsbereich, wie z.B. »Vermögensverwaltung« oder »Treuhand«. Für die deutsche Ausgabe (Hannes Meyer hat den Text übersetzt) hat man einen einsinnigeren Begriff gewählt, der außerdem andere Bedeutungsbereiche evoziert als die Börsengeschäfte des Protagonisten.
Im Mittelpunkt des Ganzen steht einer, den man heute als Finanzguru bezeichnen würde. Durch Zielstrebigkeit, Egozentrik, Cleverness und Risikofreude hat Andrew Bevel in den Zwanzigerjahren unermessliche Reichtümer angehäuft und kann selbst nach dem großen Zusammenbruch der Weltwirtschaft noch als Gewinner auf all die ignoranten Kleinanleger herabschauen, deren Existenz ruiniert wurde. Der Börsen-Plot zieht sich, wenn auch perspektivisch gebrochen, durch alle vier Abschnitte des Romans, dennoch steht die Wirtschaft nicht im Fokus des Interesses. Die Lektüre bedarf auch keiner Vorbildung im Wertpapier-ABC, denn alle Vorgänge des Aktienhandels sind verständlich beschrieben, sowohl durch die jeweiligen Erzähler als auch durch den Protagonisten selbst. Dessen Ansichten sind freilich mit Vorsicht zu genießen. Dass der Crash »heilsam« gewesen sei, dass die eigenen Leerverkäufe und andere Aktionen »Amerika gerettet« hätten, kann nur einer behaupten, der ungeschoren davonkam und besonders unverfroren urteilt.
»Verpflichtungen« ist der Titel des ersten Teils des Romans. Es ist eine Fiktion in der Fiktion, ein veritabler Roman im Roman. Sein (ebenfalls fiktiver) Autor heißt Harold Vanner, seine Protagonisten sind das kinderlose Ehepaar Benjamin Rask und Helen Brevoort. Die Handlung verbindet zwei brisante Schlachtfelder: das nervenaufreibende Börsenparkett und das aalglatte Parkett ihres Ehelebens.
Benjamin Rask hat schon in jungen Jahren begonnen, in Aktien zu investieren, und dank untrüglicher Intuition, soliden Kenntnissen und Klugheit kann er das von seinen Vorfahren ererbte Vermögen vervielfachen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs etwa steigt er in »kriegsrelevante Sektoren« ein. Ungeachtet seines Reichtums versagt sich der introvertierte Mann allen Verlockungen des Lebens – kein Sport, kein Alkohol, kein Nikotin, und selbst bei Frauen ist er nur ein »lauer Liebhaber«. Erst in der Mitte seines Lebens verspürt er »ein trübes Gefühl genealogischer Verantwortung« und zieht »eine Ehe in Betracht«. Seine Auserwählte, Helen Brevoort, stammt aus alteingesessener New-England-Familie, angesehen, aber in Würde verarmt. Helens Mutter triumphiert angesichts der schicksalhaften Fügung. Sie lässt nicht nur auf die für immer verloren geglaubte Finanzbasis der liebgewonnenen Annehmlichkeiten ihres Lebenswandels hoffen, sondern auch auf die Wahrwerdung einer Vision, dass hier zwei einsame Seelen vereint würden, die sich gegenseitig ergänzen und »erfolgreich beinflussen« werden.
Das Ehepaar Rask-Brevoort führt ein Leben auf zwei Gleisen. Während Benjamin, soweit es ihm möglich ist, die Öffentlichkeit meidet, genießt Helen ihre Rolle als großzügige, engagierte Mäzenatin. Im eigenen Haus gibt sie Künstlern eine Plattform, wo sie sich einem erlesenen Kreis Vermögender präsentieren können, und sie fördert Programme zugunsten sozial Schwacher. Doch eine psychische Erkrankung Helens beendet die glanzvolle Zeit. Benjamin scheut weder Mühen noch Kosten, um seine geliebte Frau wieder gesunden zu lassen – nur darf nichts von der Krankheit an die Öffentlichkeit dringen. Die gruseligen Behandlungsexperimente der Zeit überlebt Helen nicht.
Harold Vanners Roman »Verpflichtungen« wird zum Bestseller, zumal die Glamour-Story kaum verheimlichen kann, dass sie das wenig bekannte Leben Andrew Bevels und seiner Frau Mildred reißerisch aufbereitet. Eine derartige Blamage kann der Börsenmilliardär unmöglich auf sich sitzen lassen. Um die falschen Darstellungen eines dahergelaufenen Schreiberlings auszulöschen, kauft er sämtliche Exemplare des Ruf schädigenden Machwerks auf. Gleichzeitig greift er selbst zur Feder und konzipiert seine Autobiografie (»Mein Leben« – der zweite Teil von Hernan Diaz’ Roman). Er skizziert die Vorgeschichte seiner Ahnen, seine »frühen Jahre«, sein Eheleben mit Mildred, aber die Textgestalt ist uneinheitlich, die Inhalte sind unvollständig. An seinem schriftstellerischen Talent zweifelnd, macht sich Andrew auf die akribische Suche nach einem Profi-Ghostwriter.
Den Zuschlag bekommt Ida Partenza, Tochter eines aus Italien geflohenen Kommunisten. Selbst eine begnadete Lügnerin, kann sie mit ihrem Opus »Erinnerte Memoiren« (der dritte Teil von Hernan Diaz’ Roman) die Vita des genialen Finanzjongleurs und seine hingebungsvolle Partnerschaft idealisieren und in die von ihrem Geldgeber gewünschten güldenen Farben guter Literatur tauchen.
Zwar gelang es Ida Partenza bei ihren Recherchen nicht, noch eine Ausgabe von Harold Vanners Buch aufzutreiben, doch sie entdeckte Wichtigeres: ein Tagebuch von Mildred Bevel, schwer zu entziffern, aber aufschlussreich. Dieses bildet unter dem Titel »Vereinbarungen« den vierten und abschließenden Teil des Romans von Hernan Diaz und öffnet uns die Tür zum Geheimnis der Ehepaars und zu ihrer in Wahrheit eiskalten Beziehung.
Hernan Diaz’ raffinierter Roman beeindruckt durch die Komplexität seiner Struktur ebenso wie durch seine Sprachvirtuosität. Die Charakteristiken der zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren sind mit ihrer vielschichtigen Emotionalität differenziert ausgefeilt. Für gute, bereichernde Unterhaltung sorgen außerdem die Einblicke in den Aktienhandel sowie die authentische Einbettung der Handlung in ein bewegendes historisches Zeitgeschehen, inklusive unverkennbarer Bezüge zur Gegenwart.