Rezension zu »Öl auf Wasser« von Helon Habila

Öl auf Wasser

von


Ökothriller · Wunderhorn · · Gebunden · 230 S. · ISBN 9783884233917
Sprache: de · Herkunft: gb

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Paradise Lost

Rezension vom 22.09.2012 · 12 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Verrottete Pipelines winden sich wie verendende Riesenschlangen durch die Landschaft; der Boden – schwarzer, teeriger Schlamm – wabert wie zäher Kuchenteig; hier und da wild flackernde riesige Feuerfackeln; auf dem Flusswasser stumpf schillernde Schlierenflächen, in denen ab und an Kadaver und abgetrennte Körperteile vorbeitreiben; die Dörfer sind verlassen. Über allem der beißende Geruch des Öls. Der Brechreiz sitzt direkt hinter den Lippen.

Der Autor Helon Habila wirft uns mitten hinein in diese Apokalypse. Es ist die völlig zerstörte Landschaft um Port Harcourt, Nigeria, Westafrika.

Rufus, 25, absolvierte, dem Rat seines Vaters folgend, zunächst eine Lehre als Fotograf, bevor er sich als Journalist bei einer kleinen Zeitung bewarb und die Stelle bekam. Nun fällt ihm die Chance auf die Story seines Lebens zu – und dann noch in Zusammenarbeit mit dem Starreporter Zaq, der mit seinen aufsehenerregenden Reportagen zur Zeit der Diktatur Berühmtheit erlangte.

Eine Weiße aus Großbritannien, die Frau eines Erdölchemikers, ist entführt worden. Sie wird in den Händen von Rebellen sein, die ein dickes Lösegeld fordern, um es alsdann sogleich in Waffen zu investieren.

Die beiden Journalisten verlassen Port Harcourt in einem Fischerboot, das ein alter Mann und sein Sohn durch die Mangrovensümpfe in die dunklen Wälder steuert. Irgendwo dort im Heart of Darkness residiert der Rebellenchef, der sich "Professor" nennt. Die beiden Reporter wollen ihn treffen, ihn interviewen, Fotos von der noch lebenden Frau machen.

Doch vorher geraten sie in die Fänge des Militärs, der Pseudo-Guten, die für Ordnung im Land sorgen sollen zugunsten der Konzerne und der Regierung. Der Major der Truppe ist ein Warlord, der seine Gefangenen bestialisch misshandelt. Ob sie wirklich Rebellen sind oder nur einfache Bauern, die ihre Hütten und ihr Land selbst gegen viel Geld nicht verlassen wollten, schert ihn wenig. Mit einer Gießkanne betröpfelt der Major die gebeugten Köpfe der vor ihm knienden Männer mit Benzin und verspottet sie: "Ihr ertragt den Geruch von Benzin nicht? Aber dafür kämpft ihr doch und tötet? Also los, genießt es."

Rufus, der Ich-Erzähler, muss bittere Frustrationen verwinden. Der einstmals große Zaq ist völlig heruntergekommen, kaum noch bei Verstand, gibt sich immer wieder die volle Breitseite, bis er schließlich an einem fiebrigen Infekt schwer erkrankt und stirbt. So muss Rufus die Mission, eine Entführung ganz anderer Art aufzudecken, allein zu Ende führen. Am Schluss wird er auf der Insel Irikefe sein persönliches Glück finden.

Seltsam mutet die hier lebende, in weiße Gewänder gehüllte Glaubensgemeinschaft an, die zwischen die kriegerischen Fronten der Rebellen und Soldaten gerät, doch ihren wahren Weg unerschütterlich weitergeht. Die Insel ist ein Zufluchtsort für seelisch und körperlich Versehrte und Gestrandete, ein weißer Fleck auf der schwarzen Landkarte, wahrscheinlich im Nirgendwo.

Habilas aufrüttelnder, das Bewusstsein entzündender Roman ist voller Poesie, schafft eindringliche Bilder, die wir nie mehr vergessen werden. Die rußige Luft beißt in unserer Nase, wir spüren den klebrigen, schmierigen Dreck auf der Haut und werden beides kaum mehr los. Nur leider schüttelt uns der Autor auch gehörig durcheinander. Die Struktur seines Erzählens erinnert mich an die wild in die Lüfte aufragenden, daneben zum Boden hin gekrümmten, geborstenen Rohre der Pipelines. Ohne Einleitung oder Übergänge springt der Autor ständig vom Hier und Jetzt zurück in die Vergangenheit des Ich-Erzählers. Auch die Ereignisse, die die beiden Reporter Zaq und Rufus durchleben, werden nicht chronologisch wiedergegeben, sondern so, wie der Erzählfluss sich gerade wendet. Musste das so sein? Dadurch wirkt alles ein bisschen chaotisch, so wie das Land, das im Chaos versinkt.

Alles dreht sich ums Öl, und damit um uns. Wir Bewohner der privilegierten Wohlstandswelt verwenden und verschwenden Tag für Tag Produkte, die auf Öl basieren – und sind uns dieser Tatsache und ihrer Folgen oft nicht einmal bewusst: Plastiktüten, Joghurtbecher, Klarsichthüllen, Textilien, Frischhaltefolien, Schuhe ... Dass im Zuge der Ölproduktion Missgeschicke wie Lecks, Tankerhavarien, Explosionen passieren, nehmen wir zur Kenntnis, wenn wir in den Medien darüber informiert werden, vergessen sie aber bald wieder. Wenn niemand mehr darüber berichtet, scheint ja alles wieder im Lot zu sein.

Helon Habilas "Öl auf Wasser" (Oil on Water, übersetzt von Thomas Brückner) führt uns drastisch vor Augen, dass in anderen Weltgegenden ganze Landstriche unwiederbringlich verwüstet, Natur und Mensch zerstört sind – für unseren Öldurst. Nigeria, Afrikas bevölkerungsreichstes Land, besitzt gigantische Erdölressourcen, aber sie sind eher ein Fluch als ein Segen, denn sie werden seit mehr als 50 Jahren an vorderster Front durch globale Konzerne wie Shell, ExxonMobil, Chevron und Texaco in Joint Ventures mit der Nigerian National Petroleum Corp ausgebeutet. Rebellengruppen, die Gewinnbeteiligung an den Einnahmen fordern, und andere Gruppierungen, die sich gegen die untragbare Zerstörung ihrer einzigartigen Umwelt und ihrer Lebensgrundlage wehren, verhalten sich wie Terroristen. Sie sprengen Pumpstationen in die Luft, bohren Pipelines an, klauen das schwarze Gold. Ihre Wut und ihre Gier haben nicht weniger Schaden hinterlassen als die um Umweltschutz nur wenig bemühten Großkonzerne. Korruption und Gewalt zwischen den unterschiedlichen Völkerstämmen machen jeglichen Fortschritt zunichte.

Der größte Teil von Nigerias Bevölkerung lebt in bitterer Armut. Bevor die Ölgesellschaften kamen, war ihr Land das reinste Paradies. Doch viele Einheimische haben sich von einer Schlange verführen lassen, die "flüsterte, lockte, züngelte" und schließlich in den verlockenden Apfel gebissen, indem sie auf die Geldangebote der Ölgesellschaften hereinfielen. Der Blick auf Nachbardörfer, die das Geld schon erhalten hatten, erzeugte Neid und erleichterte die Entscheidung, es ihnen gleichzutun.

Wussten Sie, dass 1 Tropfen Öl ca. 600l Wasser verunreinigt? Im Jahr 2010 flossen 3.000 Barrel Öl (das sind etwa 480.000 Liter!) aus einem Pipelineleck ins nigerianische Erdreich und hat einen der größten Mangrovenwälder der Welt zerstört.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher aufgenommen.


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Kommentare

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Zu »Öl auf Wasser« von Helon Habila wurden 1 Kommentare verfasst:

Norbert Tholen schrieb am 30.12.2014:

Mit diesem Buch habt ihr euch einen wirklich großartigen Roman vorgenommen und angesmessen besprochen. Auch mich haben die unangekündigten Rückblenden zunächst verwirrt, aber dann doch weniger als euch gestört. Ich habe das Buch zu Weihnachten bekommen, kannte den Autor gar nicht; ich werde mir eure Liste der top 20 in Ruhe anschauen.
Ich wünsche euch ein gutes Jahr 2015.

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