Eine packende und qualvolle Suche nach der Wahrheit
Sieben lange Jahre haben australische Gerichte verhandelt, um die Schuld eines Mannes am Tod seiner drei kleinen Söhne zu ermitteln. Wenn er dieses Verbrechen begangen hat, so war es besonders grausam, herzlos und kaum zu begreifen. Oder starben die Kinder durch einen unvermeidlichen Unfall? Oder ist alles ganz anders abgelaufen, als es scheint? Den Aufsehen erregenden Mordprozess und seine rätselhafte Vorgeschichte hat die australische Autorin und Journalistin Helen Garner in einem beeindruckenden Gerichtskrimi verarbeitet.
Angeklagt ist Robert Farquharson. Er lebt von seiner Ehefrau Cindy getrennt. An jedem zweiten Wochenende betreut er die gemeinsamen drei Söhne. Während er an einem Abend des Jahres 2005 die Kinder zu ihrer Mutter zurückfährt, überfällt ihn am Steuer eine heftige Hustenattacke. Für kurze Zeit verliert er das Bewusstsein, weswegen er nichts dazu aussagen kann, was in der Folge geschieht. Das Auto kommt jedenfalls von der Straße ab, stürzt in einen Baggersee und versinkt bis in sieben Meter Tiefe. Der Mann kann sich befreien und schwimmt an die Wasseroberfläche. Die drei Jungen hingegen ertrinken.
Farquharson galt stets als liebender, fürsorglicher Vater. Niemand in der Verwandtschaft traut ihm eine vorsätzliche Mordtat zu, nicht einmal seine Ehefrau, die doch ihre über alles geliebten Kinder und mit ihnen ein Stück von sich selber verloren hat. Als einziges Motiv kommt in Frage, dass er seine Söhne aus primitiver Rache, aus Unzufriedenheit mit seiner Lebenssituation hat ersaufen lassen. Aber ist so ein Handeln überhaupt vorstellbar?
Freunde des Angeklagten, Polizisten, Kriminalbeamte, Rettungsdienst, Sachverständige, Mediziner – zahlreiche Zeugen werden einbestellt. Fotos können keine Klarheit schaffen, da der Schauplatz des Geschehens nur ungenau markiert wurde. Man versenkt, um den Unfallhergang zu rekonstruieren, ein baugleiches Fahrzeug im See. Doch all das fördert nur wenige und kaum beweiskräftige Indizien zu Tage. So werden alle Darstellungen von Zeugen und Gutachtern immer wieder bis in die Details hinterfragt, Kreuzverhören unterzogen, durch andere Aussagen und Gutachten in Frage gestellt, mal aus dieser, mal aus jener Perspektive neu beleuchtet.
Diese langwierigen Prozeduren verlangen allen Prozessteilnehmern Geduld und äußerste Konzentration ab. Unvermeidlich greifen Langeweile, Müdigkeit, Unaufmerksamkeit um sich. Doch immer wieder reißen die Eltern – »gebrochene Menschen«, in der Trauer um ihre verlorenen Kinder vereint in einem »Abgrund von Leid«, wo Begriffe wie »Schuld oder Unschuld keine Macht mehr hatten« – Geschworene, Zuschauer und Medienvertreter aus ihrer Lethargie. »Herzzerreißende Schluchzer und Schreie« aus der kalten Halle vor dem Gerichtssaal dringen bis in den Verhandlungsraum.
Helen Garner hat den Prozess von Anfang bis Ende als Unbeteiligte begleitet. Sie kennt den Unfallort am Baggersee und den Friedhof, wo die drei Söhne begraben liegen. Unermüdlich und mit größter Sorgfalt berichtet sie aus ihrer Perspektive der neutralen Beobachterin, und ihr entgeht kein Detail. In ihrer Darstellung ist sie um sachliche Objektivität bemüht, doch dem Leser bleibt nicht verborgen, dass auch sie Anteil nimmt, ihre Gefühle nicht verdrängen kann, Kraft schöpfen muss, um die unvorstellbare Strapaze der zähen Suche nach einer widerborstigen, vielleicht unergründlichen Wahrheit durchzustehen. In dieser unaufdringlichen Einbeziehung der menschlichen Aspekte, die den Leser nicht zu einer Parteinahme drängen will, liegt die Stärke dieser literarischen Aufbereitung eines in den unzähligen Aktenordnern gewiss trockenen Prozessberichts.
Präzise beschreibt die mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin (1942 geboren) Kleidung, Körperhaltung, psychische und physische Verfassung des Angeklagten und seiner Angehörigen sowie deren Veränderung während der vielen Prozessjahre. Am Ende des Romans kennen wir jede beteiligte Person des inneren familiären Zirkels. Die Hauptpersonen, den immer wieder seine Liebe und seine Unschuld beteuernden Vater und die verzweifelte Mutter, werden wir nie mehr vergessen.
Besonderen Eindruck hinterlassen sowohl bei der Autorin als auch bei uns die beiden juristischen Antagonisten. Staatsanwalt Rapke und Verteidiger Morrissey inszenieren sich im Interesse ihres Auftrags, um die Geschworenen für oder gegen den Angeklagten einzunehmen. Während der Verteidiger »mit dem Herz auf der Zunge« für seinen Mandanten kämpft und »die Geschworenen mit seiner warmherzigen, kumpelhaften Art« umgarnt, betont sein Kontrahent eine »verstandesmäßige Herangehensweise«, die aus dem dürftigen Beweismaterial Leben und Sprengkraft ziehen soll. Mit »beeindruckender Rhetorik«, »stahlharter Logik« und »psychologischer Raffinesse« lanciert er gegen die Verteidigung gezielte Schläge, die oft wie beiläufig daherkommen und die aufmerksame Berichterstatterin (die »Zuschauerin in mir«) derart begeistern, dass sie sich »am liebsten erhoben und ihm zugejubelt« hätte. Der Verteidiger jedoch gibt sich unerschütterlich und lässt sich nicht aus seinem Konzept bringen. Die These der Anklage, Robert Farquharson habe den Unfall geplant und absichtlich herbeigeführt, hält Morrissey für »bizarr, grotesk, absoluten Nonsens«.
Helen Garners »This House of Grief« (übersetzt von Lina Falkner) ist die fesselnde und aufwühlende literarische Aufarbeitung eines wahren, dennoch verborgenen Ereignisses und seiner Folgen. Bis zur Verzweiflung quält den Leser nicht nur die traurige Familiengeschichte, sondern auch die langwierige, zutiefst verstörende Suche nach einer Wahrheit, die unauffindbar bleiben könnte. Die Autorin scheint die Zuversicht aufrechterhalten zu wollen, dass die Möglichkeit, ein Vater lasse seine drei unschuldigen Kinder absichtlich ertrinken, ethisch und moralisch undenkbar sei. Bis zum unwiderruflichen Schuldspruch am Ende nährt sie die Aussicht auf einen Freispruch für den Angeklagten und sogar den irrwitzigen Gedanken, alles Berichtete und Verhandelte sei gar nicht geschehen, und die Jungen lebten womöglich noch. So fasziniert dieser im Kern dokumentarische Roman von der ersten bis zur letzten Seite nachhaltiger als mancher Thriller.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.