Rezension zu »Dinge, die wir brennen sahen« von Hayley Scrivenor

Dinge, die wir brennen sahen

von


Das Verschwinden eines kleinen Mädchens in einer abgelegenen australischen Kleinstadt erschüttert deren ohnehin marodes Gefüge.
Belletristik · Eichborn · · 368 S. · ISBN 9783847901150
Sprache: de · Herkunft: au

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Eine Scheinwelt bricht zusammen

Rezension vom 12.10.2023 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Mit ihrem Debütroman »Dirt Town« hat die Schrift­stellerin Hayley Scrivenor 2022 die austra­lischen Best­seller­listen auf Anhieb erobert und eine ganze Reihe von Aus­zeich­nungen einge­sammelt. In der Über­setzung von Andrea O’Brien ist das Buch jetzt im Eichborn-Verlag erschie­nen.

Wir befinden uns in der australischen Kleinstadt Durton, einem fiktio­nalen Ort weitab von jeder Großstadt. Es gibt ein Motel, eine Polizei­wache, einen Friedhof und eine Eisen­bahn­linie, aber der Zug fährt in der Regel durch, wenn sich niemand recht­zeitig voran­gemel­det hat. Die Ein­wohner­zahl ist über­schaubar. Einige sind mitein­ander verwandt, andere haben irgend etwas mitein­ander zu tun. Jeder kennt jeden so weit, wie die Außen­ansicht eine Meinungs­bildung zulässt. Das beschei­dene Leben wird bestimmt durch die uner­trägliche, flirrende Hitze, Perioden staubiger Dürre, den Weizen­preis und Arbeits­losig­keit. Als ver­meint­liche Aufheller der Psyche greift man gern zu Alkohol und Drogen, aber wenn der Frust uner­träglich wird, gibt es Streit und Prüge­leien, bei denen man sich an Schwä­cheren auslässt, ins­beson­dere den Frauen. Nicht immer muss man von Ver­gewal­tigung ausgehen, aber Schwanger­schaften im zarten Teen­ager­alter sind nicht unge­wöhnlich.

Was sich in Durton, einem Wortspiel mit der Aus­sprache des Original­titels, zwischen Ende November und Mitte Dezember 2001 zuträgt, wird aus mehreren Perspek­tiven im Wechsel erzählt. Eine davon ist die der Gemein­schaft der Kinder (»Wir«). Sie berichten ihre Erleb­nisse, beschrei­ben ihre Beob­achtun­gen, kommen­tieren sie aus ihren Erfah­rungen. Hell­sichtig durch­schauen sie die Erwach­senen und formu­lieren freimütig, was sie erkennen: »Erwach­sene logen die ganze Zeit.« Ihre Schluss­folge­rungen stimmen traurig: »Durton. Dirt Town. Schmutz und Schmerz […]. Aber wir erinnern uns an unsere Freunde, unsere Familien […]. Dort lebten wir, das war unsere Heimat.«

Ausgangspunkt der Handlung ist ein Ereignis, das bis fast zum Schluss ungeklärt bleibt. Die zwölf­jährige Esther Bianchi verlässt die Schule, kommt aber nie zu Hause an. Ihr guter Freund Lewis ist mög­licher­weise der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Danach könnte sie entführt worden sein. Aus der Stadt wird die auf solche Fälle spezia­lisierte Ermitt­lerin Sarah Michaels in die Provinz abge­ordnet; ihr Kollege Wayne Smith begleitet sie. In Durton werden die beiden vom Orts­poli­zisten Lacey Macintyre unter­stützt, aber Zugang zu den Menschen, denen alles Fremde suspekt ist, finden sie kaum.

Ein erster Verdacht richtet sich gegen den Vater der Ver­schwun­denen. Als ein sexueller Übergriff aus seiner Jugend bekannt wird, ist es vorbei mit seiner Glaub­würdig­keit und seiner Ehe.

Aus der Perspektive des wichtigen Augenzeugen Lewis erfahren wir, dass er Esther nicht auf ihrem üblichen Heimweg, sondern am Fluss gesehen hat. Was er selber dort getan hat, wagt er niemandem zu sagen. Er lebt in ständiger Angst vor seinem gewalt­tätigen Vater und vor den Mit­schülern, die ihn mobben, und so hält er seine Beob­achtung lieber geheim. In den Erzäh­lungen von Esthers Freundin, Esthers Mutter und der Poli­zistin Sarah wieder­holen sich viele Details in verän­derter Form, und auf diese Weise kristalli­sieren sich Wahr­heiten heraus.

Obwohl der Kriminalplot die Handlung voran­treibt und in der Auflösung der Umstände um Esthers Ver­schwin­den kulmi­niert, ist er nicht erst­rangig. Ebenso wichtig scheinen der Autorin partner­schaft­liche Probleme, die sie einfühl­sam und in durch­gehend melan­choli­schem Ton be­schreibt. So zeugen unüber­sehbare Spuren bei Sarahs Partnerin von unver­muteter Gewalt. Auch in Durton gibt es eine bemer­kens­werte Frauen­beziehung zwischen Shelly Thompson, Mutter von fünf Kindern und bereits Groß­mutter, und der sechs Jahre jüngeren Constance, Esthers Mutter. Ihre Motive sind unklar. Bietet Shellys Engage­ment ihr nur die Möglich­keit, den eigenen Problemen (wie der ständigen Ab­wesen­heit ihres Ehe­mannes, eines LKW-Fahrers) aus dem Weg zu gehen? Esthers Vater miss­billigt diese Freund­schaft aus fami­liärem Stolz. Sein italie­nisch­stäm­miger Clan der Bianchi steht lieber etwas abseits von den anderen Orts­ansäs­sigen und hat »sich immer schon für was Besseres gehalten«. Nach Esthers Ver­schwin­den steht Shelly der psychisch schwer ange­schlage­nen Freundin voller Hingabe bei, wofür diese ihr dankbar ist. Trotzdem schwelt zwischen den beiden etwas Verbor­genes.

Tatsächlich ist in der Kleinstadt Durton nichts, wie es an der Ober­fläche scheint. Niemand bekennt sich zu seiner wahren Lebens­situa­tion. Die meisten sind einsam und werden von einem unge­sunden Mix von Gefühlen zwischen Ver­zweif­lung und Miss­trauen be­herrscht. Das zwischen­mensch­liche Klima ist vergiftet durch Ver­dächti­gungen. Unglück­liche Umstände lassen schnell die Fassaden bröseln, lösen eine Ketten­reaktion aus, und mancher sieht sich gezwungen, einen Weg weiter zu gehen, von dessen Ziel er keines­wegs überzeugt ist. Am Ende der Roman­hand­lung sind alle, die Esther nahe standen, tief getroffen von der unvor­her­seh­baren Auflösung ihres Falles. Für die Kinder ist die Zeit der Unschuld vorüber, die Erwach­senen werden mit den Kon­sequen­zen ihres Verhal­tens leben müssen, und wer sich die Freiheit nehmen kann, wird die Koffer packen.


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