Dinge, die wir brennen sahen
von Hayley Scrivenor
Das Verschwinden eines kleinen Mädchens in einer abgelegenen australischen Kleinstadt erschüttert deren ohnehin marodes Gefüge.
Eine Scheinwelt bricht zusammen
Mit ihrem Debütroman »Dirt Town« hat die Schriftstellerin Hayley Scrivenor 2022 die australischen Bestsellerlisten auf Anhieb erobert und eine ganze Reihe von Auszeichnungen eingesammelt. In der Übersetzung von Andrea O’Brien ist das Buch jetzt im Eichborn-Verlag erschienen.
Wir befinden uns in der australischen Kleinstadt Durton, einem fiktionalen Ort weitab von jeder Großstadt. Es gibt ein Motel, eine Polizeiwache, einen Friedhof und eine Eisenbahnlinie, aber der Zug fährt in der Regel durch, wenn sich niemand rechtzeitig vorangemeldet hat. Die Einwohnerzahl ist überschaubar. Einige sind miteinander verwandt, andere haben irgend etwas miteinander zu tun. Jeder kennt jeden so weit, wie die Außenansicht eine Meinungsbildung zulässt. Das bescheidene Leben wird bestimmt durch die unerträgliche, flirrende Hitze, Perioden staubiger Dürre, den Weizenpreis und Arbeitslosigkeit. Als vermeintliche Aufheller der Psyche greift man gern zu Alkohol und Drogen, aber wenn der Frust unerträglich wird, gibt es Streit und Prügeleien, bei denen man sich an Schwächeren auslässt, insbesondere den Frauen. Nicht immer muss man von Vergewaltigung ausgehen, aber Schwangerschaften im zarten Teenageralter sind nicht ungewöhnlich.
Was sich in Durton, einem Wortspiel mit der Aussprache des Originaltitels, zwischen Ende November und Mitte Dezember 2001 zuträgt, wird aus mehreren Perspektiven im Wechsel erzählt. Eine davon ist die der Gemeinschaft der Kinder (»Wir«). Sie berichten ihre Erlebnisse, beschreiben ihre Beobachtungen, kommentieren sie aus ihren Erfahrungen. Hellsichtig durchschauen sie die Erwachsenen und formulieren freimütig, was sie erkennen: »Erwachsene logen die ganze Zeit.« Ihre Schlussfolgerungen stimmen traurig: »Durton. Dirt Town. Schmutz und Schmerz […]. Aber wir erinnern uns an unsere Freunde, unsere Familien […]. Dort lebten wir, das war unsere Heimat.«
Ausgangspunkt der Handlung ist ein Ereignis, das bis fast zum Schluss ungeklärt bleibt. Die zwölfjährige Esther Bianchi verlässt die Schule, kommt aber nie zu Hause an. Ihr guter Freund Lewis ist möglicherweise der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Danach könnte sie entführt worden sein. Aus der Stadt wird die auf solche Fälle spezialisierte Ermittlerin Sarah Michaels in die Provinz abgeordnet; ihr Kollege Wayne Smith begleitet sie. In Durton werden die beiden vom Ortspolizisten Lacey Macintyre unterstützt, aber Zugang zu den Menschen, denen alles Fremde suspekt ist, finden sie kaum.
Ein erster Verdacht richtet sich gegen den Vater der Verschwundenen. Als ein sexueller Übergriff aus seiner Jugend bekannt wird, ist es vorbei mit seiner Glaubwürdigkeit und seiner Ehe.
Aus der Perspektive des wichtigen Augenzeugen Lewis erfahren wir, dass er Esther nicht auf ihrem üblichen Heimweg, sondern am Fluss gesehen hat. Was er selber dort getan hat, wagt er niemandem zu sagen. Er lebt in ständiger Angst vor seinem gewalttätigen Vater und vor den Mitschülern, die ihn mobben, und so hält er seine Beobachtung lieber geheim. In den Erzählungen von Esthers Freundin, Esthers Mutter und der Polizistin Sarah wiederholen sich viele Details in veränderter Form, und auf diese Weise kristallisieren sich Wahrheiten heraus.
Obwohl der Kriminalplot die Handlung vorantreibt und in der Auflösung der Umstände um Esthers Verschwinden kulminiert, ist er nicht erstrangig. Ebenso wichtig scheinen der Autorin partnerschaftliche Probleme, die sie einfühlsam und in durchgehend melancholischem Ton beschreibt. So zeugen unübersehbare Spuren bei Sarahs Partnerin von unvermuteter Gewalt. Auch in Durton gibt es eine bemerkenswerte Frauenbeziehung zwischen Shelly Thompson, Mutter von fünf Kindern und bereits Großmutter, und der sechs Jahre jüngeren Constance, Esthers Mutter. Ihre Motive sind unklar. Bietet Shellys Engagement ihr nur die Möglichkeit, den eigenen Problemen (wie der ständigen Abwesenheit ihres Ehemannes, eines LKW-Fahrers) aus dem Weg zu gehen? Esthers Vater missbilligt diese Freundschaft aus familiärem Stolz. Sein italienischstämmiger Clan der Bianchi steht lieber etwas abseits von den anderen Ortsansässigen und hat »sich immer schon für was Besseres gehalten«. Nach Esthers Verschwinden steht Shelly der psychisch schwer angeschlagenen Freundin voller Hingabe bei, wofür diese ihr dankbar ist. Trotzdem schwelt zwischen den beiden etwas Verborgenes.
Tatsächlich ist in der Kleinstadt Durton nichts, wie es an der Oberfläche scheint. Niemand bekennt sich zu seiner wahren Lebenssituation. Die meisten sind einsam und werden von einem ungesunden Mix von Gefühlen zwischen Verzweiflung und Misstrauen beherrscht. Das zwischenmenschliche Klima ist vergiftet durch Verdächtigungen. Unglückliche Umstände lassen schnell die Fassaden bröseln, lösen eine Kettenreaktion aus, und mancher sieht sich gezwungen, einen Weg weiter zu gehen, von dessen Ziel er keineswegs überzeugt ist. Am Ende der Romanhandlung sind alle, die Esther nahe standen, tief getroffen von der unvorhersehbaren Auflösung ihres Falles. Für die Kinder ist die Zeit der Unschuld vorüber, die Erwachsenen werden mit den Konsequenzen ihres Verhaltens leben müssen, und wer sich die Freiheit nehmen kann, wird die Koffer packen.