Ödipus und Monatsbinden
Peter Hunkeler hat nur noch sechs Wochen bis zur Pensionierung. Seine Freundin Hedwig, Pädagogin, ist sich nicht sicher, ob Hunkeler mit der Zeit "danach" glücklich wird. Zwar ist und wird ihm die Rente immer sicher sein, denn in der Schweiz wird direkt abgestimmt (Nach Hansjörg Schneider würden die Senioren in geschlossenen Vierergruppen zur Urne schreiten ...; vgl. S. 10) , aber die Freiheit des Alters belastet Hunkeler sehr: eine Zeit des Verblödens bis zur Senilität. Später reicht dann nur noch ein einziges Buch, denn hat man den Schluss gelesen, weiß man den Anfang nicht mehr. Welch ein Grauen ... Aber noch ist er an Bord und hält sich fit, indem er regelmäßig im Rhein seine Kilometer schwimmt.
Drei Tage nach der das Basler Publikum provozierenden Premiere des "König Ödipus" (unter der Regie von Stephan Hulsch) ist Theaterdirektor Bernhard Vetter spurlos verschwunden. Er lebte auf einem Hausboot und hatte am Vorabend mit neun Gästen eine kleine Party gefeiert.
Da sich der Vorfall im Dreiländereck ereignet haben könnte, arbeiten die Schweizer Beamten mit der deutschen und der französischen Polizei zusammen. Beim ersten Rapport befindet Staatsanwalt Suter Hunkeler für den geeigneten Mann, sich im Theatermilieu umzuhören, denn alle wissen, dass er während seiner Studentenzeit als Bühnenarbeiter, Regieassistent oder Statist dort viel Zeit zubrachte. Doch jetzt fühlt sich Kollege Madörin auf den Schlips getreten: Er leite doch die Ermittlungen. Bevor Hunkeler bewusst rausgeekelt wird, spürt er seine Halsschmerzen und meldet sich bis auf weiteres krank.
Hunkeler hatte die "Ödipus"-Premiere mit eigenen Augen gesehen. Im Gegensatz zu zahlreichen Baslern, die das Theater unter Protestschreien ("Unterhosentheater – Scheißdreck") verließen, fand er geradezu Spaß an der Aufführung. Was für andere so eklig anzuschauen war, rief bei ihm Belustigung hervor; die Komik war überwältigend, er konnte sich vor Lachen kaum halten. Und dem Leser wird das alles gut nachvollziehbar erzählt ...
Wo aber steckt jetzt Bernhard Vetter?
Hunkeler kehrt gedanklich in die Zeit der 68er zurück, liest Adorno und Hölderlins "König Ödipus"-Übersetzung und diskutiert mit dem Regisseur über seine Inszenierung. Alles hat seinen Sinn: Ödipus sticht sich die Augen aus, "der Monatszyklus der Frau ist der Grundzyklus des Lebens" (S. 40) , das Patriarchat ist dasUnglück der Welt. Zwar fand Hunkeler die Aufführung hervorragend, doch das schützt ihn nicht davor, dass seine ignorante Frage nach den "Monatsbinden" mit einer Ohrfeige beantwortet wird – wahrscheinlich stellvertretend für die ignoranten Basler ("Scheißpublikum, Scheißkretins").
Ansonsten lässt Hunkeler sich treiben, am liebsten in den Hafenkneipen, wo er gern ein Glas zuviel trinkt; er trifft Journalisten, abgewrackte Schauspieler, die nicht mehr gefragt und dem Alkohol verfallen sind, Damen des horizontalen Gewerbes und andere Typen.
Schneider beherrscht die ganze Bandbreite der sprachlichen Palette, schreibt mal poetisch-bildhaft, mal analytisch-gesellschaftskritisch, mal hintergründig-witzig. Sein Insiderwissen als Basler und Theatermann schafft ein authentisches Kolorit. Das macht Spaß zu lesen, aber die Merkmale des Krimi-Genres bleiben für mich auf der Strecke. Wo ist die kribbelnde Spannung? Auf den letzten zehn Seiten wird der Mörder dingfest gemacht. Nach meinem Geschmack ist der Schluss profan, das Tatmotiv trivial und abgedroschen, und beides passt nicht zu diesem intellektuellen Krimi.
"Hunkeler und die Augen des Ödipus" ist der erste Roman, den ich von Hansjörg Schneider gelesen habe. Er arbeitete als Regieassistent und Chargendarsteller am Basler Theater. Seine Werke (auch Dramaturgien) wurden mehrfach ausgezeichnet.