Die Frau, die ich sein will
Zwei Frauen machen sich auf ihren Weg. Die eine ist jung und hat ihr ganzes Leben noch vor sich, die andere alt und am Ende ihrer Zeit angekommen. Beide sind wie verpflanzte Bäume, deren Wurzeln nicht anwachsen wollen.
Die fünfzehnjährige Ayfer haben ihre Eltern aus der Schweiz zu Onkel und Tante in die Türkei verbannt. Sie soll ihre Zukunft gefälligst in ihrem eigenen Kulturkreis verbringen, weitab von verderblichen westlichen Einflüssen. Aller Freiheiten beraubt - sogar ihr Handy hat man eingezogen - hasst Ayfer ihre Verwandten ebenso wie ihre Art zu leben. Sie ist gerade gut genug für den Bedienungsservice im Hotel ihrer Sippe. Selbst eine Ausbildung zur Köchin kann sie sich abschminken, denn Frauen sind in türkischen Küchen nicht gelitten. Ayfer muss raus hier, sie will zurück in die Schweiz, zu ihrem Freund Davor und zu ihren Eltern. Dort kann sie sie selbst sein, muss nicht den Vorstellungen der anderen entsprechen. Und so haut sie eines Tages ab. Unterwegs ist ihr jedes Transportmittel, das sich gerade anbietet, willkommen: Bus, Lastwagen, Wohnwagen ...
Roberta, 72, soll ihre letzten Lebensjahre in einem Altenheim in der Schweiz verbringen, und das auch noch ohne ihren Hund. Sie kann und will sich nicht integrieren, wird daher auch nicht sonderlich gelitten in der Gemeinschaft. Rüstig und durchtrainiert, wie sie ist, plant Roberta einen Ausbruch ganz anderer Art. Erst befreit sie "Prinz", ihren Liebling, aus dem Tierheim, dann machen sich die beiden mit Trekkingausrüstung und kleinem Zelt samt Internet-Karten auf den Weg gen Heimatdorf in Österreich.
Mit diesem Grundkonzept zweier Fluchten hat Hansjörg Schertenleibs neuer Roman "Wald aus Glas" etwas von einem Roadmovie. Doch ihm geht es nicht um die Spannung des Durchquerens unbekannter Gegenden. (Zum Beispiel wird Ayfer auf der langen Reise aus der Türkei über Griechenland, Bulgarien, Serbien, Österreich bis in die Schweiz keinerlei Leid angetan - was heutzutage geradezu unrealistisch erscheint.) Der Autor verfolgt andere Intentionen.
Die beiden Frauen bewegen sich zeitlich parallel, aber räumlich und vor allem perspektivisch gegenläufig.
Robertas Blick ist rückwärts gewandt. Ihr Lebensresumée ist bitter. Nie konnte sie die Frau sein, die sie sein wollte, ihre Träume konnte sie nicht ausleben. Sie suchte Liebe und Hinwendung, wurde aber in der Familie und in drei Beziehungen immer nur enttäuscht, betrogen, mit Verachtung gestraft. Jetzt passiert sie auf ihrer Strecke die Stätten ihrer Vergangenheit.
Ayfer dagegen schaut nach vorne in eine selbstbestimmte Zukunft, "um die Frau zu werden, die ich sein will". Doch als sie in der Schweiz angekommen ist, wird sie in aller Härte mit ihren Grenzen konfrontiert, und ihr wird bewusst, dass sie wird kämpfen müssen, um ihre Verwirklichung zu erreichen. Ihr Bruder verprügelt sie, statt sie mit offenen Armen zu empfangen, ihre Mutter will nichts mehr mit ihr zu tun haben ("Du bist nicht meine Ayfer."). Selbst ihr Freund Davor hat sich längst anders entschieden. Eine Muslimin ist in seinem Elternhaus nicht willkommen.
Schon mit dem spannenden, leicht rätselhaften Anfang ahnt der Leser, wie die beiden Frauen schließlich enden werden. Wir begleiten sie auf ihren abwechselnden Erzählschienen. Zufällig werden sich ihre Wege kreuzen. Das Ende lässt der Autor offen. Die weiteren Folgen sind nicht absehbar, doch reichen die Ansätze kaum aus, um optimistische Hoffnungen zu hegen. "Die Freiheit", räsoniert Roberta schließlich, "beginnt in der Sekunde, in der du dich loslässt, nicht aufgibst, nein, loslässt, [...] freigibst".