Der Weltreporter
von Hannes Stein
Zwölf Reisereportagen in entlegene Regionen zwischen unserer Erde und Hannes Steins ureigenem Universum, aufgefädelt auf dem dünnen Strang einer kleinen Liebesgeschichte.
Fantastische Inseln
Eins steht außer Zweifel: Hannes Stein ist ein herausragender Erzähler. Das meine ich zunächst einmal ganz vordergründig und trivial, sozusagen vom hedonistischen Standpunkt aus betrachtet. Wie originell, vielfältig, differenziert und treffsicher er seine Worte wählt, wie variabel er seine Sätze baut, so dass Melodien und Rhythmen entstehen, was für farbenkräftige Bilder er malt, das schaffen nur wenige andere in gleicher Qualität und zuverlässiger Konstanz wie er. Bei allen drei Büchern, die ich von ihm gelesen habe, war das Lesen ein dichtes, sinnliches Vergnügen. (Wer so etwas kann – so viel Vorwarnung muss sein –, kann freilich jedes Extrem sinnlich perfekt gestalten, auch unsäglich Ekelhaftes.)
Was die Inhalte betrifft, mag es Hannes Stein (ein gebürtiger Münchner, der viele Jahre in Salzburg, Schottland und Israel verbrachte und 2007 in die USA ausgewandert ist) ebenso wenig beim Alltäglichen belassen. Da entfalten seine blühende Fantasie und überbordende Kreativität Settings, Plots und Handlungselemente, die mit Extremsituationen, Utopien, Alternativwelten und der Geschichte jonglieren, aber doch irgendwie in unserer Realität verwurzelt sind und dank ihrer sinnlich-konkreten Darstellung auch von nüchternen Lesern so gerade noch geschluckt werden können. So spielt »Der Komet« [› Rezension] mit der charmanten Idee, der 1. Weltkrieg hätte nie stattgefunden und das Habsburgerreich hätte sich bis heute erhalten, während sich in »Nach uns die Pinguine« [› Rezension] das Britische Empire auf die Falkland-Inseln eingeköchelt hat. In beiden Romanen steht im Übrigen der Untergang der Menschheit vor der Tür.
»Der Weltreporter« nimmt einige dieser Fäden wieder auf, fällt aber auch aus der Reihe.
Uneingeschränkt gilt mein Preislied des Erzählstils wieder. Dank des Vergnügens des Autors an schöner Sprache im Allgemeinen und speziell an Preziosen wie dem gelegentlichen Einbinden altmodischer Begriffe und Stilmittel perlt der Text gewissermaßen, und eine Fülle von Anspielungen und Zitaten auf Filme, Bücher und Philosophie gibt ihm Würze.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Büchern fehlt aber ein konventioneller durchgehender Plot. Vielmehr handelt es sich um eine wechselhafte Beziehungsgeschichte zwischen der Taxi fahrenden Philosophiestudentin Julia Bacharach und einem etwa drei Jahrzehnte älteren Journalisten namens Bodo von Unruh. Die kurzen Episoden der Liebesgeschichte (auktorialer Erzähler, 3. Person) werden alle paar Seiten unterbrochen von einer umfänglicheren, in sich geschlossenen Reisereportage Bodos als Ich-Erzähler. Über vier Fünftel des Buches hin rätselt man, was die zwölf Reisen miteinander oder mit der Affäre zwischen Julia und dem Reisenden zu tun haben könnten, dann beginnt die clever exaltierte Auflösung zu dämmern. Sie passt stimmig ins Hannes-Stein-Universum und wird hier natürlich nicht einmal angedeutet.
Bodo von Unruh arbeitet für »Holzmann’s Weltspiegel«, ein (fiktives) Produkt von qualitativ hochwertigem und hochpreisigem Journalismus. Die Artikel des traditionsreichen Magazins, um das sich viele Mythen ranken, werden ohne Rücksicht auf die Kosten konzipiert, recherchiert und verfasst, sorgfältigst kontrolliert und aufwändig gedruckt. Bodo von Unruhs Texten sind Fotografien beigestellt, die sein Begleiter Jacques Lacoste unter oftmals dramatischen Umständen angefertigt hat. (Authentischerweise sind die Bildlegenden mit abgedruckt.)
Während die Schnipsel der Liebesaffäre mehr oder weniger nette Episoden, belanglose Reibereien und geistreiche Dialoge erzählen (bis es schließlich zur Sache geht), trumpfen die zwölf Reportagen groß auf und sind die eigentliche Attraktion des Romans. Sie schildern allesamt Reisen zu verortbaren Zielen, exotisch und nur mit Strapazen zu erreichen (Afghanistan, Sibirien, Amazonas, Himalaya …). Dem neugierigen Protagonisten kommen Gerüchte von fabelhaften Zuständen in isolierten Regionen dort zu Ohren, und er macht sich auf den ungewissen Weg, um den Wahrheitsgehalt des Unglaublichen zu recherchieren. Tatsächlich haben sich auf den abgelegenen ›Inseln‹ aus Sterns Fantasie historische, politische, soziale Absonderlichkeiten etabliert, entwickelt oder erhalten, wie etwa die Münchner Räterepublik von 1919 in Brasilien, eine Eidgenossenschaft von Gangstern im Hindukusch oder das weltbeste Restaurant (»Forbidden Pleasures«), von dem »kein Mensch« weiß, wo es liegt. Ganze Staatssysteme (aber auch ein neues Shakespeare-Drama) sind der Imagination des Autors entsprungen, deren Wesen und Geschichte er plausibel und schräg zugleich herleitet, indem er Fakten und eigenwillige Interpretationen mixt. So wurde ausgerechnet in einer vergessenen Nische Russlands durch alle ideologischen Extreme und Kehrtwendungen vom Stalinismus bis zur Perestroika hindurch klammheimlich ein sehr konkretes Utopia realisiert, wo »das logische Ziel der menschlichen Entwicklung« längst erreicht wurde. Ein Algorithmus regiert und steuert das Gemeinwesen zu dessen Bestem: »Widerstand ist zwecklos.«
Dies ist ist zweifellos ein ›Autor-Buch‹, will heißen: Nicht der Stoff als solcher, der Plot oder die Charaktere stehen mit einer bedeutsamen Botschaft im Vordergrund, sondern das Vergnügen des Autors an seinem kreativen Prozess. Im Schreiben konfrontiert er das uns geläufige Leben und gängiges Denken unermüdlich mit Alternativen, Fantasien, Extremen. Dabei blitzen immer wieder Schalk und Provokation auf, und nur weil alles auf einem breitem Bildungs- und Kulturfundament verankert ist, lassen wir uns beim Lesen auf die überdrehtesten Geschichten ein.
Von vielen Lesern wird Steins Versicherung diskutiert, er habe das Buch bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt. Angesichts von Meinungen, Theorien, Maßnahmen, Miss-Erfolgen und Formulierungen, die uns nun in frappierender Ähnlichkeit im vom Virus bestimmten Alltag entgegenschlagen, mag man in der Tat glauben, Stein habe seinen Roman in Kenntnis der Entwicklung bis ins Jahr 2021 hinein verfasst. Wirklich relevant sind allerdings weder diese Textstellen noch das erörterte Problem.