Symphonie ›Aus der Alten Welt‹
Alles, was im 20. Jahrhundert schief lief, repariert Hannes Stein mit einem winzigen Federstrich. Nachdem eine Bombenexplosion den Erzherzog Franz Ferdinand in seinem Automobil knapp verfehlt hat, fährt er nicht etwa weiter, hält eine Rede und kehrt auf demselben Weg zurück (wo sein Attentäter wartet), sondern verlässt Sarajewo stante pede: »I bin doch ned deppat, i fohr wieder z'haus.« Folglich wird er nicht erschossen, der 1. Weltkrieg zündet nicht, all seine verheerenden Nach- und Nebenwirkungen entfallen.
Wie unsere Welt heute aussehen könnte, wenn die folgenreichen Schüsse von Sarajewo nicht gefallen wären, das malt der Autor in seinem klugen und charmanten Roman »Der Komet« kenntnisreich, phantasievoll, amüsant und anschaulich aus. Plots, wie sie andere Utopien erzählen (soziale Bewegungen, rivalisierende Anschauungen, Auseinandersetzungen zwischen ihren Repräsentanten), fehlen; Steins Augenmerk gilt der generellen Staatsphilosophie und Befindlichkeit der Gesellschaft.
Europas Monarchien haben überlebt, Faschismus und Kommunismus bleiben wunderliche ideologische Randerscheinungen. Den Unsinn kriegerischer Auseinandersetzungen hat man längst erkannt, Städte und Landschaften blühen unzerstört.
Die politisch und kulturell führende Nation ist das Kaiserreich Österreich-Ungarn, ein Weltmodell im Kleinen. Zwischen Bodensee und Ukraine, Böhmen und Herzegowina eint die Treue zum Doppeladler der Habsburger eine Vielzahl unterschiedlichster Ethnien, Temperamente und Sprachen. Nicht E pluribus unum fordert sie zusammenzustehen, sondern Suum cuique ist ihnen zugesichert. Auch das deutsche Kaiserreich (»vulgo: Preußen«, de facto ebenfalls ein Vielvölkerstaat aus Bayern, Hessen, Sachsen, Schwaben, Preußen ...) belässt heiklen Regionen wie dem Elsass großzügige Autonomie.
Auf einem Fundament aus Aufklärung, Bibel und bürgerlichen Tugenden hat sich die Gesellschaft maßvoll weiterentwickelt, tolerant und auf sozialen Ausgleich bedacht. Nichts könnte das besser illustrieren als das Völker- und Sprachengemisch in Wien. Deutlich ist schon im Straßenbild zu erkennen, dass das Judentum in Wirtschaft und Kultur die Führungsrolle spielt. Im übrigen sind die Juden gerade in Deutschland »seit Jahrhunderten in der Provinz verwurzelt ... ganz normale Durchschnittsleute und bei den Gojim in ihrer Umgebung hoch angesehen«. Das Verhältnis zwischen Juden, Christen, Moslems und Andersgläubigen ist so unverkrampft, dass man sich mit Antisemitismus ebenso unaufgeregt auseinandersetzt wie mit Nörglern und Quertreibern.
Seit 1871 »weitgehend verschont« von Kriegen, ist das christliche Abendland der kulturelle und moralische Nabel der Welt. Filme aus den Rosenhügelstudios bei Wien, von und mit Georgy Lukasz, Szczepan Szpilberg, Arnold Schwarzenegger und Christoph Waltz, feiern weltweite Erfolge; Almdudler ist rund um den Globus das Kultgetränk; die Weltsprache ist Deutsch. Die wirtschaftlich-technologische Führungsmacht, nicht geliebt, aber respektiert, ist Deutschland mit seinen innovativen, teuren Spitzenerzeugnissen. Beim Wettkampf um überseeische Besitzungen einst ebenso leer ausgegangen wie die Österreicher, konnten die Deutschen dank ihres Vorsprungs durch Technik inzwischen die Antarktis und seit 1944 den Mond kolonialisieren. Technik wird übrigens nur für edle Zwecke fortentwickelt: Zwar kann man von mehreren europäischen Flughäfen per Linienflug zum Mond reisen, aber dass Menschen aus Flugzeugen Bomben abwerfen – »wie sollte das technisch gehen?«
So ist Österreich-Ungarn ein Land, das man allemal »gut bewohnen konnte ... das aus Regeln, Herkunft und ein bisschen Fortschritt gemacht war ... Reaktionär, fortschrittlich und human«.
Andere Weltregionen und -kulturen können nicht mithalten. Kopfschüttelnd nimmt das blühende Europa zur Kenntnis, wie die Japaner (»Barbaren«) ihre chinesischen Nachbarn grausam unterdrücken. Den Russen und Amerikanern entging die Gelegenheit, sich als Supermächte zu profilieren; beide dümpeln im Mittelfeld; die provinziellen USA üben »strikte Neutralität«.
Steins Welt scheint zur Ruhe gekommen. Das idyllische Retro-Utopia ist so in Vernunft gefestigt, dass Gefahr nur von außen drohen kann. Und in der Tat nähert sich aus dem All ein gewaltiger Komet. Sein Einschlag, so hat man weit im voraus berechnet, wird am 11. September 2001 um 9.03 Uhr »ein bisschen westlich von Wien« stattfinden und die Apokalypse bringen. Ist die Menschheit noch zu retten? David (»Dudu«) Gottlieb, kaiserlicher Hofastronom aus Wien, wird in die deutsche Forschungsstation auf den Mond berufen.
Indessen gibt sich seine Frau Barbara zu Hause den Wonnen einer Liebesaffäre hin. Der feinsinnige, noch gänzlich unbeleckte Student Alexej von Repin aus heruntergekommener russischer Adelsfamilie verliebt sich in die gereifte Schönheit (»warme Mittelmeeraugen ... griechische Nase ... sanft gewölbter Frauenbauch«) und wird von ihr in mancherlei Geheimnisse eingeführt.
Doch die beiden Handlungsstränge schreiten gemächlich voran, tauchen überhaupt nur gelegentlich an der Oberfläche auf. Dazwischen füllen zahlreiche lose verknüpfte Episoden die Kapitel (Kardinal, Rabbiner und Psychiater beim Tarock im Kaffeehaus; der Kaiser in seinem Büro; der anarchistische »Fernsehphilosoph« beim Räsonnieren über Zufall und Gewalt ...), und jede bietet Ausgangspunkte für Gespräche und arabeske Reflexionen, die die Zustände und ihre für uns neue Entwicklungsgeschichte erklären.
Die Kontrastierung dessen, was hätte sein können, mit dem, was leider war, treibt der Autor gern dadurch auf die Spitze, dass er das Datum eines realen Tiefpunktes zu einem Triumphereignis ›seiner‹ Historie umwidmet. Die erste Mondlandung etwa gelang den Deutschen am 27. März 1944; wie schön wär's gewesen! Stattdessen schlugen an jenem Tag V2-Raketen in London ein. Solche Details erfährt man aus dem Glossar, dessen Erläuterungen, Biographien und realhistorische Abrisse nicht selten einen bitteren Geschmack bekommen.
Dass eine Historie aus Vergeblichkeit, Absurdität und Dummheit nicht unrealistisch ist, beunruhigt indes nur wenige: Den Ingenieur August Biehlolawek etwa quälen Albträume, »von der Alten Welt sei nicht einmal mehr eine Erinnerung übrig geblieben«, nachdem ein oder zwei Kriege sie mit Panzern, Bomben und millionenfacher Grausamkeit vernichtet haben. Die Psychoanalyse ist ratlos angesichts des irrwitzigen Todestriebes des Patienten ...
Dies alles porträtiert ein fein gebildeter Erzähler, ein lächelnder, diskret-offenherziger Plauderer, der uns mit zahllosen Schmankerln bei Laune hält. Seine Sprache ist gepflegt wie die Atmosphäre, die sie beschreibt, mit Sinn für Bedeutung und Ästhetik, für Rhythmus und Maß. Bei der Lektüre stellt sich eine nostalgisch-zuversichtliche Stimmung ein, wie sie beim Lesen von Jules-Verne-Romanen oder beim Blättern in vergilbten Konversationslexika aufkommt. Sie wird gestützt von Archaismen (»Bureau«, »Caveat«), ungewohnten termini technici (»Klapprechner«, »Düsenzug«, »Elektropost«), Beschreibungen (in Fraktur beschriftete Hinweisschilder auf dem Mond) und herzigen Austriazismen (»Zwetschgenröster«, »um viertel auf sieben«, »Tschapperlwasser«, »owidraht«).
Hannes Stein ist ein wunderbares Buch gelungen, das rundum überzeugt, auch wenn er natürlich viele Komponenten, die Geschichte machen, einfach wegblendet. Eine aufregendere Handlung wäre leicht möglich gewesen, aber darum ging es dem Autor nicht. Er wollte nur mit der Geschichte spielen.