Schuld und Söhne
Das Urteil ist gesprochen: Die Frau ist des Mordes schuldig. Ehe die Todesstrafe vollstreckt werden kann, muss der Schuldspruch in der Hauptstadt geprüft werden. Bis die Bestätigung eintrifft, werden zwei Jahre vergehen. Was soll in der Zwischenzeit geschehen mit der Verurteilten? Auf der ganzen Insel gibt es kein Gefängnis noch sonst einen Ort, wo sie sicher verwahrt werden könnte, und wer mag eine Mörderin in seinem Hause aufnehmen?
Was vorher geschehen war und vor allem wie es jetzt weitergeht, das sind die beiden Teile des Plots eines atmosphärisch dichten Romans, der den Leser in eine geografisch und historisch entlegene Umgebung entführt und authentische Charaktere vorstellt, deren Wesen und Schicksal niemanden kalt lassen, ebenso wenig wie die Frage nach Schuld und Sühne.
Der Kern der erzählten Ereignisse trug sich im frühen neunzehnten Jahrhundert im fernen Norden von Island zu, das bis 1918 zum Königreich Dänemark gehörte. Im März 1828 kamen auf einem Bauernhof zwei Männer unter mysteriösen Umständen gewaltsam ums Leben. Offenbar wollten Fridrik Sigurdssón und Pétur Jónsson den Eigentümer Natan Ketilsson berauben, die Magd Agnes Magnúsdóttir war in irgendeiner Weise involviert; am Ende lagen Ketilsson und Jónsson tot in ihrem Blute, erstochen. Um die Spuren zu verwischen, wurde der Bauernhof in Brand gesteckt. Fridrik Sigurdssón und Agnes Magnúsdóttir wurden verurteilt und am 12. Januar 1830 enthauptet, ihre Köpfe zur Abschreckung auf Stangen aufgespießt. Es waren die letzten Hinrichtungen auf der Insel; knapp einhundert Jahre später schaffte Island die Todesstrafe ab.
Der Tathergang konnte nie aufgeklärt werden, und es ist auch nicht Anliegen der Autorin Hannah Kent, hierzu Neues aufzudecken. Nach intensiven Recherchen in Island präsentiert sie zwar »meine Interpretation der Mordfälle«, aber in ihrem Fokus steht Agnes Magnúsdóttir, von der sie »ein vielschichtigeres Porträt« als das bekannte zeichnen will. Dabei kann diese Frau, von den Zeitgenossen als »unmenschliche Hexe, die den Mord angeführt hat«, gebrandmarkt, nur gewinnen. Obwohl wir den Urteilsspruch kennen, können wir angesichts der geschilderten erbärmlichen Lebensumstände gar nicht anders, als ihr unser Mitleid, wenn nicht unsere Sympathien zu schenken und bis zum unausweichlichen Ende zu hoffen, es möge sich doch noch eine Wende einstellen, Gnade ergehen.
Das Drama der Agnes Magnúsdóttir setzt sich fort, nachdem Landrat Björn Blöndal Täter und Zeugen gehört und die Magd schuldig gesprochen hat. Zur Abschreckung soll die Hinrichtung in demselben Landkreis stattfinden, in dem das Verbrechen verübt wurde. Blöndal entscheidet, dass die Frau auf dem Stóra-Borg-Hof untergebracht wird, bis der Bote mit dem Dokument der Rechtsgültigkeit des Schuldspruchs aus Kopenhagen zurückkehrt. Er hofft sie dort »im Haus aufrechter Christenmenschen, die sie durch ihr gutes Beispiel zur Reue bewegen können«. Doch man bedient sich lediglich Agnes' Arbeitskraft und lässt sie ansonsten unter erbärmlichen Bedingungen wie ein Tier dahinvegetieren. Nach einem nicht näher erklärten Zwischenfall soll sie auf einen anderen Hof verlegt werden.
Jetzt wählt Björn Blöndal das Anwesen von Jón Jónsson, der als Dienstmann »Teil dieser Obrigkeit« ist, sich daher seiner Pflicht schwerlich entziehen wird und dessen bitterarme Familie die zugesagte Entlohnung dringend gebrauchen kann. Auf dem Kornsáhof leben neben Jón dessen schwer asthmatische Frau Margrét und ihre beiden erwachsenen Töchter Steina und Lauga. Die entsetzte Margrét sträubt sich aus Angst um ihre Töchter, die Magd und ihre Knechte, eine Mörderin unter ihrem Dach aufzunehmen, aber es bleibt keine Wahl.
Als Margrét die »monströse Kreatur«, »dreckverkrustet, gehüllt in viele Schichten von Körpersäften: Blut Schweiß, Fett«, mit einem Bluterguss im Gesicht, im »Sattel festgebunden« und von zwei Büttelknechten bewacht, auf ihrem Hof empfängt, überwindet sie freilich ihren Vorsatz, das mordende Monster niemals zu berühren. Agnes muss sich waschen und entlausen, sie erhält Kleidung und ein Nachtlager, selbst Wasser ist für sie eine lange entbehrte Wohltat. Während Margrét den geschundenen Körper – »eine Landkarte der Gewalt« – salbt, erinnert sie sich, wie sie sich mit Lauga darüber unterhalten hat, ob der Teufel in Menschengestalt wohl ein äußerliches Kennzeichen trage, eine »Hasenscharte«, einen »Hexenzahn« oder ein »Muttermal«. Das sei Aberglaube, versicherte die Mutter der Tochter. Aber so »feingliedrig, elfenschlank«, mit blasser Haut und dunklem Haar hatte sich Margrét eine Frau, die Männer mit einem Dolch ersticht, wahrlich nicht vorgestellt.
Schon als Agnes nach ihrer dunklen Gefangenschaft auf dem Stóra-Borg-Hof ins Freie geführt wurde, fühlte sie sich »wie neugeboren«, und ihre »Seele blühte auf«. Nun widerfährt ihr während ihrer letzten perspektivlosen Lebensmonate auf dem Kornsáhof ein kleines, bescheidenes Glück. Sie darf noch einmal die sein, »die ich früher war«. Denn der Kornsáhof ist der Ort ihrer Kindheit.
Agnes wurde 1795 unehelich geboren. Als sie sechs Jahre alt ist, legt ihre Mutter, eine Magd, sie vor der Tür des Kornsáhofs ab. Dessen Besitzer ziehen das Mädchen auf; die Pflegemutter lehrt sie lesen und schreiben. Zur Konfirmation attestiert man ihr »einen überaus klaren Verstand, ausgeprägte Bibelfestigkeit und tiefes Verständnis für den christlichen Glauben«.
Nach dem Tod der Pflegemutter und dem Wegzug des Pflegevaters muss Agnes für sich selber sorgen. Sie zieht von Gehöft zu Gehöft, arbeitet als einfache Dienstmagd, ihr Ruf ist zweifelhaft – rastlos, verbittert, »scharfe Zunge ... gern mal den Rock zu heben«. Endlich bietet ihr Natan Ketilsson eine dauerhafte Anstellung als Haushälterin auf Illugastadir. Der zwielichtige Mann fasziniert nicht nur Agnes. Für manche Leute ist er ein »Hexerich« namens »Natan Satan«, für andere ein Segen. Gläubig ist er nicht, aber er sieht »im Sturz des Falken, im malmenden Gebiss seiner Mutterschafe das zwinkernde Auge Gottes«. Mit eigenwilliger Naturmystik (»die geheimen Zeichen des Wetters«) deutet er Träume und heilt Leiden. Seiner Kräuterkunde verdankt Landrat Blöndals Frau ihr Leben. Agnes verliebt sich in Natan, und ihr tödliches Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Nachdem man ihr im Gerichtsprozess nicht geglaubt, ihre Worte verdreht und gegen sie verwendet hat, hat Agnes sich geschworen, ihre Vergangenheit niemandem mehr anzuvertrauen und fortan zu schweigen. Nur ihr Recht auf geistigen Beistand möchte sie wahrnehmen, und für ihre Zeit auf dem Kornsáhof erwählt sie dafür den Pfarrvikar Torvardur Jónsson, genannt Tóti, den sie während ihrer Wanderjahre kennen und schätzen gelernt hatte.
Wie aber kann der junge Gottesmann einer Mörderin Beistand leisten, Zugang zur Seele einer solchen Frau finden? Schnell erkennt er, dass es »anderer Mittel als religiöser Zurechtweisung« bedarf, damit sie ihrem Schicksal würdevoll entgegentreten kann. Er will stattdessen »die sanfte, forschende Stimme eines Freundes« zu ihr sprechen lassen.
Die Autorin entwickelt Agnes Magnúsdóttirs Lebensgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Manche Kapitel erzählt die Protagonistin in der Ich-Form, andere geben Margréts oder Torvardurs Erlebnisse und Erkenntnisse wieder, dazwischen sind Briefwechsel und andere Dokumente eingeschoben. So ergibt sich nach und nach ein vielschichtiges Gesamtbild der jungen Frau, die eine düstere Vergangenheit und keine Zukunft hat.
Auf dem Kornsáhof fügt sich Agnes gut ein. Sie hilft bei der Heuernte, beim Schafeschlachten, strickt in den dunklen Winternächten, entlastet die geschwächte Margrét, gewinnt das Vertrauen der Familie, so dass man ihr auch Sense und Messer überlässt. Tochter Steina hält besonders enge Verbindung zu ihr, fühlt sich von ihr verstanden und akzeptiert. Lauga ist angewidert, wie vorbehaltlos Mutter und Schwester, ja sogar die Knechte und die Magd der Mörderin begegnen. Sie fürchtet um den Ruf der Familie und ihre eigenen Heiratschancen. Sie steht zum Vater, der jeglichen Kontakt mit der Verurteilten verweigert. Aber auch er ist zugegen, als Agnes in den dunklen, bitterkalten Winternächten – den letzten vor ihrer Enthauptung – endlich genug Vertrauen gewonnen hat, um ihre Geschichte zu erzählen.
»Burial Rites« , Hannah Kents Debütroman, den Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten übersetzt haben, überzeugt durch literarische Qualität und handwerkliche Sorgfalt. Dank der wechselnden Perspektiven sind in die erzählte Handlung sehr geschickt feine Beobachtungen aller wichtigen Figuren und deren Reflexionen eigener und anderer Verhaltensweisen eingeflochten. Der Leser kommt den Charakteren sehr nah, kann ihre Empfindungen gut nachvollziehen. Er spürt die sich ausbreitende Wärme in den schneereichen Winternächten, als Agnes sich öffnet und zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Wertschätzung erfährt.
Obwohl vom anderen Ende der Welt stammend, kann die Australierin Hannah Kent (geboren 1985) das einfache Leben in Island vor zweihundert Jahren authentisch darstellen. (Sie war schon als Austauschschülerin auf der Insel und hat da erstmals von Agnes Magnúsdóttir gehört.) Anschaulich beschreibt sie das zugige, feuchte Torfhaus der bitterarmen Bauernfamilie, nicht mehr als eine primitive Schutzhütte mit Feuerstelle; im »Badstofa«, dem einzigen Raum darin, leben und schlafen alle gemeinsam, auch die Knechte und Mägde, auf Strohbetten. Ihre Nahrung ist unvorstellbar karg. Ihr festgefügtes Weltbild ist bestimmt vom Glauben an Gott, durchmischt mit der Interpretation von Tierverhalten und Naturphänomenen, die als gute oder böse Omen aufgefasst werden, von Legenden und uralten Sagas.
Eine Person, wie es Agnes vor ihrem Sündenfall war, aus einfachen Kreisen, des Lesens und Schreibens mächtig, daher unabhängig, selbstbewusst und strebsam, passt nicht in so ein beengtes System; sie wird zurückgetrieben an den Platz, der ihr zukommt. Dass sie zur Verbrecherin wird und eine harte Strafe erleiden muss, erweckt nicht Mitgefühl, sondern bestätigt nur die gängige (eigene) Weltsicht: So eine Frau hat nichts Besseres verdient. Beim Gerichtsverfahren gerät dann statt des Strebens nach Wahrheit und Gerechtigkeit der ordnungsbewahrende, ›erzieherische‹ Aspekt in den Vordergrund: Es kann ein abschreckendes Exempel statuiert werden.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2014 aufgenommen.