»Die Deledda hat alles von uns Sarden begriffen«
Was Mintonia, die Protagonistin aus Salvatore Niffois großartigem Roman »Die barfüßige Witwe«, von ihrem Mentor Tziu Imbece hört, wird 1926 auch das Stockholmer Komitee gewusst haben, das der Autorin Grazia Deledda (1871-1936) den Nobelpreis für Literatur zusprach, »für ihre von Idealismus getragenen Werke, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf ihrer heimatlichen Insel schildern und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandeln.«
Ihr bedeutendstes Werk ist »Canne al vento« von 1913, seit genau einhundert Jahren immer wieder von diversen Verlagen aufgelegt, in viele Sprachen übersetzt und fünf Mal verfilmt.
Im Kern geht es darin um den Niedergang einer einst angesehenen und wohlhabenden, nun verarmten Familie in einer entlegenen Gegend im kargen Inland des nördlichen Sardiniens. Wir erleben den ereignisarmen, tristen Alltag im bescheidenen, eingeengten Leben dreier Schwestern, ihrer Dienstboten und Mitbewohner im Dorf. Ihrer aller Leben wird definiert durch die materielle Reduktion auf das wenige, über das sie verfügen können, durch die allumfassende Natur, durch die Sitten, Konventionen, Ehrbegriffe, die ihr Wesen durchtränkt haben und denen niemand entrinnen kann, selbst wenn er sich räumlich entfernte – aufs Festland, auf Wanderschaft, auf Büßerfahrt.
Neben den drei Schwestern Ruth, Esther und Noemi Pintor ist ihr Verwalter und Vertrauter Efix der zentrale Charakter. Ihn drückt eine schwere Schuld aus der Vergangenheit, die die unverbrüchliche Treue und Loyalität seinen Herrinnen gegenüber noch verstärkt. Er ist stets darauf bedacht, ihr längst verblasstes Ansehen im Dorf hochzuhalten, und steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite.
Die Handlung wird ausgelöst durch die Ankunft des jungen Don Giacinto. Er ist der Sohn von Lia, der vierten, ältesten der Pintor-Schwestern. Sie war als junge Frau unter dramatischen Umständen aus dem Dorf aufs Festland geflohen, wobei Efix ihr gegen den vor Wut rasenden Vater half. Auf Giacinto, den Unbekannten vom continente, setzen nun alle ihre Hoffnungen, den verfallenen Gutshof wieder zu Leben und Erfolg aufblühen zu lassen und dem Dorf Glanz zu bringen. Außerdem tun alle jungen Frauen ihr Bestes, seine Aufmerksamkeit zu erregen, vor allem die hübsche, aber arme Grixenda, und auch der reiche Vetter Don Predu beobachtet ihn, allerdings kritisch, denn er hat seine eigenen Pläne hinsichtlich der Kusinen und ihrem Anwesen.
Bald kehrt Ernüchterung ein. Charakterschwäche, falsches Spiel, Enttäuschungen, Fremdheit und Ereignisse aus der Vergangenheit vereiteln eine glückliche Wendung des Schicksals der Familie Pintor. Hoffnungsträger Giacinto erweist sich als Falschspieler und muss tief sinken, ehe Efix ihn zur Umkehr drängen kann. Bis dahin hat er allerdings schon großen materiellen und menschlichen Schaden angerichtet.
Die Erzählung bietet keine Sensationen in der Handlung, aber dramatische Wendungen. Die Menschen scheinen ihrem Schicksal machtlos ausgeliefert, wie Schilf im Wind. Die Ereignisse fließen ruhig dahin und erzeugen eine elegisch-melancholische Stimmung, wie man sie noch heute in vielen Gegenden dieser seit Jahrtausenden unverändert scheinenden Insel erleben kann.
In Deleddas Roman ersteht Sardinien vor unseren Augen und mit allen Sinnen – der Duft der Gärten und Felder, die gewundenen Wege, die sanften Hügel, die brütende Hitze der endlosen Weite, die frische Kühle an einem plätschernden Bach, die üppige Vegetation, dazwischen die ärmlichen Behausungen, die eins mit der Natur sind und Tier und Mensch kaum Schutz gewähren. In der archaischen, von Zauberwesen beseelten Landschaft bleibt der Mensch immer nur Gast, muss sich einfügen.
Die Widrigkeiten des Lebens nehmen die Bewohner geduldig und ergeben hin, aber ihre Religiosität, ihre alten Traditionen, Sitten und Gebräuche (etwa das Dorffest, das in der Handlung eine zentrale Rolle spielt), dazu unumstößliche Begriffe von Tugend, Ehre, Hoffnung, Pflicht und Verantwortung, Schuld und Sühne, Bändigung der Leidenschaften verleihen ihnen die Stärke, Stand zu halten, so wie es der Titel in seinem eindringlichen Bild widerspiegelt.
Eine der fünf Verfilmungen des Romans hat Mario Landi 1958 für die RAI geschaffen (in ton- und bildtechnisch passabler Qualität als Zweiteiler auf Youtube verfügbar). In einem engen Studio entstanden, muss sie die Atmosphäre der Schauplätze ausblenden, aber die Ernsthaftigkeit der Schauspielerinnen und Schauspieler beeindruckt. Leider übertreibt Cosetta Greco als Noemi allzusehr, wenn sie ihre leidenschaftliche Zuneigung zu Giacinto gleichzeitig zu verbergen und ihm zu zeigen versucht. Wesentlich unangenehmer ist allerdings die Musikuntermalung von Ennio Porrino: Mit einer Handvoll von Tönen hat er eine Handvoll von Phrasen auf einer Handvoll einfacher Instrumente (darunter eine elektrische Orgel mit penetrantem Vibrato) eingespielt, die bei jeder passenden und unpassenden Szene wiederholt werden.
Hinweise zu Film- und Audioversionen:
»Canne al vento« auf YouTube suchen