Da sind wir
von Graham Swift
Zwei Männer und ihre Partnerin sind die Stars der Varieté-Saison 1959 in Brighton. Dann verschwindet einer von ihnen spurlos. Was für ein Geheimnis sich dahinter verbirgt, belastet die Frau ihr gesamtes weiteres Leben.
Schatten der Erinnerung
Zwei Männer hat Evie White in ihrem Leben geliebt, und beide waren irgendwann »einfach weg«, von jetzt auf gleich. Dem einen, Ronnie, war sie versprochen, doch verschwand er 1959 nach nur einem gemeinsamen Jahr spurlos. Den anderen, Jack, heiratete sie 1960 und lebte fast fünfzig Jahre mit ihm zusammen. Als seine Managerin bereitete und begleitete sie seinen Weg zum Erfolg als Schauspieler und Filmstar. Eines Morgens lag er auf einmal tot neben ihr im Bett. Seither ist ein weiteres Jahr vergangen, und Evie befallen Gefühle des Verlassenseins und der Trauer, wenn sie auf ihr Leben und die beiden zurückschaut.
Alle drei waren begabte und begeisterte Varieté-Künstler und feierten 1959 ihre größten Erfolge gemeinsam im berühmten theatre an der Spitze der legendären pier in Brighton. Doch schon nach dieser ersten und einzigen Sommersaison war das Glück zu dritt vorüber. Ein Drama hinter der Bühne warf seine Schatten nicht nur auf die Show, sondern bestimmte die Zukunft aller drei Künstler. »Ronnie trat überhaupt nicht mehr in Erscheinung«, erfahren wir bereits auf Seite 12, und »dann kam der Zeitpunkt, da Evie ihren Verlobungsring abzog«. Die Rätsel um Ronnies plötzliches Verschwinden werden bis zum Ende des Romans auf Evie lasten. So fügt es sich, dass sich der Großteil ihrer Erzählung, einer Art vielfach gebrochener Selbstreflexion, mit Ronnies kurzer Lebenszeit beschäftigt.
Ronnie stammt aus einfachsten, ärmlichen Verhältnissen. Als er sechs Jahre alt ist, schenkt ihm sein Vater, ein Seemann, einen Papagei, den er aus der Ferne mitgebracht hat. Doch die Freude über »Pablo« ist kurz. Kaum ist der Vater wieder auf großer Fahrt, verkauft die Mutter das Tier. Die Not ist zu groß, als dass man sich den Luxus exotisch-bunter Schönheit ohne praktischen Nutzwert gönnen dürfte. Aber da hat der Zauber des Vogels seine anhaltende Wirkung bereits getan.
Als die Bombenangriffe auf London einsetzen, bringt die Mutter ihren Sohn schweren Herzens zum Bahnhof Paddington. Wie viele andere wird »ihr braver kleiner Junge, ihr einziges Kind, ihr ganzer Stolz und ihre Freude« aufs sichere Land verschickt. In einem kleinen Dorf bei Oxford soll er bei dem kinderlosen Ehepaar Eric und Penny Lawrence unterkommen, bis der Krieg vorbei ist. »Da sind wir«, heißen sie ihren jungen Gast willkommen und haben ihn bald ins Herz geschlossen. Beim Blick in seine großen braunen Augen fließt Pennys ganzes Wesen dahin, und Eric, der in Friedenszeiten seine Hausgäste gern mit raffinierten Tricks unterhielt, findet in Ronnie einen begeisterten Zauberlehrling. So verlebt der Junge sechs glückliche, wohlbehütete Jahre, während London, Not und Unbarmherzigkeit des Krieges in weite Ferne rücken und seine Mutter für ihn zu einer Fremden wird.
Mit dem Handwerk, das er bei Eric gelernt hat, schlägt sich Ronnie nach dem Krieg als zaubernder Solokünstler und mit einfachen Handlanger-Tätigkeiten am Theater durch. Seine »Wanderjahre« führen ihn schließlich zu Jack. Der steht als »Flinker Jack« schon die zweite Saison in Brighton auf der Varietébühne und gibt Ronnie den entscheidenden Tipp, wie er seiner »dümpelnden Karriere« Aufschwung geben kann: Er müsse seiner Zauberei Glanz verleihen und eine bezaubernde Assistentin an seiner Seite haben. Auf eine entsprechende Anzeige hin meldet sich die Revuetänzerin Evie (die sogleich Ronnies anziehenden Augen erliegt), und als »Pablo und Eve« erobert das Künstlerpaar die Herzen der Feriengäste »im Sturm«. Ihre Show ist ein »Wunderwerk« der Illusion, in dem der Magier Motive aus seinem eigenen Seelenleben verarbeitet – einen Regenbogen, bunte Blumen, einen Papagei, Dinge, die aus dem Nichts auftauchen, für einen Moment verweilen und wieder entschwinden. Jack tanzt, singt und hält als charmanter, eleganter Conférencier die Revue zusammen.
Graham Swift hat einen Liebesroman über eine Dreiecksbeziehung geschrieben, in dem nicht nur die Details der Dreiecksbeziehung ausgespart bleiben, sondern überhaupt alle Regungen von Liebesgeplänkel, Werben, Herzschmerz, Eifersucht oder Rivalität. Der Erzählsituation gemäß – eine Fünfundsiebzigjährige geht ihren Erinnerungen nach – kommt überdies keine gängige linear-chronologische Struktur auf, sondern die Erzählung (die einschließlich Erics und Pennys Geschichte immerhin fast ein Jahrhundert umspannt) vollzieht sich in zeitlich vor und zurück springenden Schnipseln, die ihre Episoden nur anreißen, nie vollständig zu Ende erzählen, damit sie an anderer Stelle aufgegriffen, vertieft, weitergeführt werden.
Nicht weniger auffällig, aber eingängiger als die Struktur ist Graham Swifts Stil. Mit leichter Feder verknüpft der Autor die Kunst des Zauberns, die Illusion des Verschwindens und des doch gleichzeitig Daseins mit der aufgewühlten Gefühlswelt Evies und der wendungsreichen, kurzen Lebensgeschichte Ronnies. Grundlage der Scheinwelt, Bestandteile und Instrumente darin sind Spiegel. Auch Evie nutzt Ronnie als Spiegel, in dem sie die alten Bilder der Erinnerung heraufbeschwören kann. Vexierbilder sind ein weiteres Mittel im magischen wie im literarischen Zauberhandwerk. Sie stiften Verwirrung, indem sie die Sinne täuschen und den Betrachter in die Irre führen. Erst am Ende des emotional immer stärker ergreifenden Romans klärt sich unser Bild etwas, kommen wir dem Geheimnis ein wenig auf die Spur.
Atmosphärisch beschwört Swift große Jahrzehnte britischer Geschichte herauf, in denen Stolz und Armut, Größe und Niedergang nebeneinander bestanden, die heute Vergangenheit sind und gern verklärt werden. Wir lesen bewegende Passagen aus Londoner Elendsquartieren und aus Kriegstagen, vom idyllischen Leben in the countryside, das mit der Rückkehr der landverschickten Kinder in die Großstadt ein ernüchterndes Ende findet, dürfen hinter die Kulissen der glanzvollen Epoche des Varietés nach dem Krieg schauen, als die südenglischen Küstenstädte ein attraktives Ziel für die Unterhaltung suchenden Massen wurden. In diesen Kontexten spürt der Autor dem Innenleben seiner drei Protagonisten nach.
Graham Swift, 1949 in London geboren, gehört zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern der Gegenwart, gerade wegen seiner ungewöhnlichen Erzähltechnik, die sich mit den Problemen, den Rätseln und dem Zauber unserer Erinnerung auseinandersetzt. So kann auch sein jüngster kleiner Roman »Here we are« , dessen niveauvolle Sprache und Stilsicherheit in Bildlichkeit und Poesie die Übersetzerin Susanne Höbel ausgezeichnet ins Deutsche übertragen konnte, nur die Leser bezaubern, die sich auf das fragmentierte, gebrochene Erzählen einlassen, und das ist nicht einfach. Mancher Satz ist nicht auf Anhieb zu verstehen, unerwartete Zeitsprünge verwirren uns, dabei vermittelt uns die Erzählerin dadurch wichtige Informationen. Etwas Aufklärung über manches Geheimnis erlangen wir jedenfalls oft erst mit erheblicher Verzögerung, und selbst die Umkehrung ist möglich, die Auflösung des Realen im Irrealen: »Genau ein Jahr her, und das Haus ist genauso voll mit seinem Wegsein.«