Rezension zu »Das Leben ist eins der Härtesten« von Giulia Becker

Das Leben ist eins der Härtesten

von


Im westfälischen Borken geraten die Lebenswege einiger gar nicht so unnormaler Menschen aus der Spur. Die gemeinsame Fahrt in einen Brandenburger Freizeitpark soll helfen, ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Ein intelligentes, witziges, menschliches Panoptikum.
Belletristik · Rowohlt · · 224 S. · ISBN 9783498006891
Sprache: de · Herkunft: de

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Fast das normale Leben

Rezension vom 10.07.2019 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Das alljährliche Literaturfestival lit.COLOGNE verleiht neben dem Deutschen Hör­buch­preis seit 2010 den »Silber­schwein­preis«, mit 2.222 Euro dotiert. Eine Jury stellt drei Debütromane des Frühjahrs vor, aus denen das Publikum den Sieger wählt. Die Preis­trägerin des Jahres 2019 heißt Giulia Becker, und ihr Erstling trägt den Titel »Das Leben ist eins der Härtesten«. Über den Spruch mit wider­spens­tiger Logik und mild-resigna­tivem Trös­tungs­faktor, in misslichen Situationen vorgebracht, hat wohl jeder schon mal ge­schmun­zelt, denn jung und frisch ist er nicht gerade.

Giulia Becker hält die Aussage als Schutzschirm über ein paar Figuren am unteren Rand des Mittel­standes und noch darunter, da, wo es prekär wird, wo man leicht ausrutschen und mit ein bisschen Pech richtig schmerzhaft stürzen kann. Das Schicksal hat es mit Silke, Roland, Renate, Willy-Martin und den anderen nicht sonderlich gut gemeint, ohne sie gleich zu erdrücken. Sie hadern mit ihren Ent­täuschun­gen, hegen aber genug Hoff­nungs­poten­zial, um nicht wider­stands­los aufzugeben. Im Gegenteil, sie entwickeln, ganz wie Politik und Gesell­schaft das wünschen, allerlei Eigen­initia­tive und Kampfgeist. Doch leider laufen ihre Konzepte ganz schön neben der Spur, und in der kom­plizier­ten Praxis verheddern sie sich hoff­nungs­los, bis sich die Macher selbst übertölpeln.

Schauplatz der Ereignisse ist die mittelgroße Kreis­stadt Borken im westlichen Münster­land, wo die Provinz flach und weit ist. Im zentralen Bahnhof begegnen sich unter­schied­lichste Typen, schlagen ihre Wege ein, und Gut und Böse gehen ein und aus. Die Bahnhofs­mission ist der Ort, wo Geschwächte und Geschei­terte Solideres zu finden hoffen als ober­fläch­liche Sprüche. Hier hat Silke Möhlenstedt, aus­gebil­dete IT-Betriebs­wirtin mit einst guten Karriere­perspek­tiven, einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden, nachdem sie eine abrupte Scheidung hinter sich bringen musste. Prak­tischer­weise kommt die Tätigkeit auch ihrer prekären finan­ziellen Situation zugute, indem sie insti­tutio­nelle Ressourcen statt der heimischen verbrauchen und durch interne Tricks ein wenig von dem gewaltigen Schulden­berg abtragen kann, den sie an der Backe hat.

Silkes Ex Roland hat gehörigen Anteil an ihrem Niedergang. Er ist ein über­hebli­cher Macho, der in seinem Hamsterrad ein permanentes Rennen mit seinen Nachbarn um das tollste Haus, den schicksten Pool und andere Best­leistun­gen austrug. Seine Frau, so hätte er es gern gehabt, sollte allzeit bereit stehen, um ihm die Karriere­leiter zu halten, und in der Tat opferte sie dafür ihre eigenen Perspek­tiven. Im Sommer 1991 – fast dreißig Jahre ist das her – hatte er zu Hause wichtige Unterlagen für ein ent­schei­dendes Meeting in Wolfsburg verschus­selt. Ausbaden musste das Silke, die die Papiere auftrags­gemäß im überhitzten Regional­express nachliefern sollte. Heißer als die Hitze draußen glühte ihre Wut über die jüngsten Unver­schämt­heiten zu ihrer voluminösen Figur, mit denen er ihren Service belohnte, und so beschloss sie spontan, die Notbremse für ein neues Leben zu ziehen. Leider tat sie das nicht im meta­phori­schen, sondern im eisen­bahn­techni­schen Sinne, was ungeahnte Folgen zeitigte und Silkes Leben sehr konkret entgleisen ließ. In den Wirren danach lernte sie Renate Gabor kennen, die ihr in den folgenden Notzeiten hilfreich unter die Arme griff.

Mit einer Episode um Renate beginnt Giulia Becker ihren Roman, der dann immer abwechselnd von seinen Figuren erzählt. Die Eingangs­szenen stimmen den Leser gleich ein auf die Art und Weise, wie die Autorin ihre Porträts überspitzt. Denn Renate betrauert ihr Malteser-Misch­lings­weib­chen »Mandarine«, das »kopfüber in einer Punica-Flasche stecken geblieben und erstickt« bzw., wie sie es selber so viel poetischer in der Todes­anzeige samt Foto des Hundchens mit Bacardi-Hut ver­öffent­licht, »über die Regen­bogen­brücke gegangen« ist. Gegen so viel Idea­lisie­rung kommt kein mensch­liches Kind jemals an, schon gleich nicht Renates Thorsten. Sein letztes Lebens­zeichen, eine Postkarte aus Kreta, klebt seit drei Jahren am Kühlschrank, ohne aufzufallen neben den unzähligen Fotos des pos­sierli­chen Vier­beiner­chens, das, anders als Thorsten, ohne Probleme »in ihre Handtasche« passte.

Um sich ihrer Trauer hingeben zu können, hat sich Renate ein paar Tage krank gemeldet – und schliddert, allein auf ihrem Sofa den aus­gefuchs­ten Strategien diverser TV-Shopping-Kanäle ausge­liefert, ungebremst in einen massiven Kaufrausch. Die Endorphin-Dopamin-Schwemme kann allerdings ihre Einsamkeit nicht kompen­sieren. Alsbald kann sie sich in ihrer kleinen Wohnung kaum noch drehen vor lauter Kosmetik-, Küchen- und Kleidungs­kram. Da erinnert sie sich an ihre Freundin Silke – die soll aus der Not helfen.

Von anderen Nöten geplagt ist Willy-Martin. Der mochte bisher seinen geruhsamen Job als Tauben­schlag­pfleger auf dem Anwesen eines Grafen, doch seit die Tiere Objekte adliger Zucht­ambitio­nen geworden sind, ist es aus mit Ruhe und Zu­frieden­heit. Nach Feierabend flüchtet er sich als »Häupt­lingRai­mundo« in die Welt der Internet-Spiele. Beim Online-Kniffeln auf www.spielaffe.de (Obacht: gibt’s wirklich!) vergisst er alle Probleme, und selbst seine Allergien sind wie weggeblasen. Seiner stärksten Gegnerin Kerstin (»DieKnochen­brecherin«) begegnet er sogar persönlich, doch die beiden trennen Welten – sowie Golden Retriever »Bounty«, Kerstins sabbernder Bettgenosse. Da muss sich auch Willy-Martin etwas einfallen lassen.

Einen Ausbund an zeitgemäßer Innovationsbegeisterung hat die Autorin mit Herrn Marquardt geschaffen, dem frisch­gebacke­nen Chef der Bahnhofs­mission. Mit seiner neuen Berufung hat er seinen früheren Beruf als Unter­nehmens­berater keineswegs abgestreift. Der »Hardcore-Freichrist mit daumen­dicken Brillen­gläsern« will »das muffige Image« von Suppenküche, Armut und Leid umkrempeln, weg mit den Obdachlosen und Alkis, an deren Statt »junge Menschen anlocken, Studierende, die vorbei­kommen, um ihre Infused-Water-Flaschen aufzufüllen, mal eben was googeln oder einen Powernap auf dem Massage­sessel zu machen«.

In Fahrt kommt die Handlung im zweiten der drei Romanteile, als man zu einer gemeinsamen Reise nach Brandenburg aufbricht, um der pflege­bedürf­tigen Frau Goebels ihren letzten Wunsch zu erfüllen: den sagenhaften Frei­zeit­park „Tropical Islands" sehen. Die Abenteuer der äußeren Handlung nehmen zu, aber auch die Längen in der Erzählung. Da wird die Substanz dann doch etwas dünn.

Dennoch ist Giulia Beckers Debüt keine bloße Blödelei. Die Autorin gehört seit 2015 zum Team von Jan Böhmermanns „NEO MAGAZIN ROYALE" und setzt ihre spitze Feder für gesell­schaft­liche, ins­beson­dere femi­nisti­sche Fragen ein. Der Roman besticht durch einen eingängigen, unterhalt­samen Stil, amüsante Szenen, nicht enden wollende Kaskaden origineller Ideen, intelli­genten Witz und unauf­dring­liche Ironie. Damit führt sie die Hohlheit aktueller Schlag­wörter vor und entlarvt die ver­führeri­sche Wirkung modischer Trends, wie bei­spiels­weise die Beschwörung persön­lichen Erfolges durch die rituelle Wieder­holung von Phrasen („Ich ziehe Geld an wie ein Magnet.").

Die Personen geben reichlich Anlass zum Lachen und Lächeln, ohne lächerlich gemacht zu werden. Ihre Schicksale und Handlungen sind effektvoll pointiert, erwecken aber doch unsere Anteilnahme, denn es sind Schei­ternde, Benach­teiligte, Pechvögel in unserer Nachbar­schaft, bisweilen nicht ohne Tragik. Frau Goebel etwa ist eine Seniorin, die den Tod vor sich weiß. Was das Äußere angeht, hat der Leser viel Freiheit, sich alles auszumalen, denn Giulia Becker verzichtet aus Prinzip auf jegliche kon­ventio­nelle Charak­terisie­rung (Alter, Äußeres ...).

Über manche allzu derb über­zogene Szenen und Klischees (wie das des Radlers in Funk­tionsklei­dung auf hyper­tech­nisch auf­gemotz­tem Trike-Liegerad) muss man einfach schmun­zelnd hinweg­lesen.


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