Das Leben ist eins der Härtesten
von Giulia Becker
Im westfälischen Borken geraten die Lebenswege einiger gar nicht so unnormaler Menschen aus der Spur. Die gemeinsame Fahrt in einen Brandenburger Freizeitpark soll helfen, ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Ein intelligentes, witziges, menschliches Panoptikum.
Fast das normale Leben
Das alljährliche Literaturfestival lit.COLOGNE verleiht neben dem Deutschen Hörbuchpreis seit 2010 den »Silberschweinpreis«, mit 2.222 Euro dotiert. Eine Jury stellt drei Debütromane des Frühjahrs vor, aus denen das Publikum den Sieger wählt. Die Preisträgerin des Jahres 2019 heißt Giulia Becker, und ihr Erstling trägt den Titel »Das Leben ist eins der Härtesten«. Über den Spruch mit widerspenstiger Logik und mild-resignativem Tröstungsfaktor, in misslichen Situationen vorgebracht, hat wohl jeder schon mal geschmunzelt, denn jung und frisch ist er nicht gerade.
Giulia Becker hält die Aussage als Schutzschirm über ein paar Figuren am unteren Rand des Mittelstandes und noch darunter, da, wo es prekär wird, wo man leicht ausrutschen und mit ein bisschen Pech richtig schmerzhaft stürzen kann. Das Schicksal hat es mit Silke, Roland, Renate, Willy-Martin und den anderen nicht sonderlich gut gemeint, ohne sie gleich zu erdrücken. Sie hadern mit ihren Enttäuschungen, hegen aber genug Hoffnungspotenzial, um nicht widerstandslos aufzugeben. Im Gegenteil, sie entwickeln, ganz wie Politik und Gesellschaft das wünschen, allerlei Eigeninitiative und Kampfgeist. Doch leider laufen ihre Konzepte ganz schön neben der Spur, und in der komplizierten Praxis verheddern sie sich hoffnungslos, bis sich die Macher selbst übertölpeln.
Schauplatz der Ereignisse ist die mittelgroße Kreisstadt Borken im westlichen Münsterland, wo die Provinz flach und weit ist. Im zentralen Bahnhof begegnen sich unterschiedlichste Typen, schlagen ihre Wege ein, und Gut und Böse gehen ein und aus. Die Bahnhofsmission ist der Ort, wo Geschwächte und Gescheiterte Solideres zu finden hoffen als oberflächliche Sprüche. Hier hat Silke Möhlenstedt, ausgebildete IT-Betriebswirtin mit einst guten Karriereperspektiven, einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden, nachdem sie eine abrupte Scheidung hinter sich bringen musste. Praktischerweise kommt die Tätigkeit auch ihrer prekären finanziellen Situation zugute, indem sie institutionelle Ressourcen statt der heimischen verbrauchen und durch interne Tricks ein wenig von dem gewaltigen Schuldenberg abtragen kann, den sie an der Backe hat.
Silkes Ex Roland hat gehörigen Anteil an ihrem Niedergang. Er ist ein überheblicher Macho, der in seinem Hamsterrad ein permanentes Rennen mit seinen Nachbarn um das tollste Haus, den schicksten Pool und andere Bestleistungen austrug. Seine Frau, so hätte er es gern gehabt, sollte allzeit bereit stehen, um ihm die Karriereleiter zu halten, und in der Tat opferte sie dafür ihre eigenen Perspektiven. Im Sommer 1991 – fast dreißig Jahre ist das her – hatte er zu Hause wichtige Unterlagen für ein entscheidendes Meeting in Wolfsburg verschusselt. Ausbaden musste das Silke, die die Papiere auftragsgemäß im überhitzten Regionalexpress nachliefern sollte. Heißer als die Hitze draußen glühte ihre Wut über die jüngsten Unverschämtheiten zu ihrer voluminösen Figur, mit denen er ihren Service belohnte, und so beschloss sie spontan, die Notbremse für ein neues Leben zu ziehen. Leider tat sie das nicht im metaphorischen, sondern im eisenbahntechnischen Sinne, was ungeahnte Folgen zeitigte und Silkes Leben sehr konkret entgleisen ließ. In den Wirren danach lernte sie Renate Gabor kennen, die ihr in den folgenden Notzeiten hilfreich unter die Arme griff.
Mit einer Episode um Renate beginnt Giulia Becker ihren Roman, der dann immer abwechselnd von seinen Figuren erzählt. Die Eingangsszenen stimmen den Leser gleich ein auf die Art und Weise, wie die Autorin ihre Porträts überspitzt. Denn Renate betrauert ihr Malteser-Mischlingsweibchen »Mandarine«, das »kopfüber in einer Punica-Flasche stecken geblieben und erstickt« bzw., wie sie es selber so viel poetischer in der Todesanzeige samt Foto des Hundchens mit Bacardi-Hut veröffentlicht, »über die Regenbogenbrücke gegangen« ist. Gegen so viel Idealisierung kommt kein menschliches Kind jemals an, schon gleich nicht Renates Thorsten. Sein letztes Lebenszeichen, eine Postkarte aus Kreta, klebt seit drei Jahren am Kühlschrank, ohne aufzufallen neben den unzähligen Fotos des possierlichen Vierbeinerchens, das, anders als Thorsten, ohne Probleme »in ihre Handtasche« passte.
Um sich ihrer Trauer hingeben zu können, hat sich Renate ein paar Tage krank gemeldet – und schliddert, allein auf ihrem Sofa den ausgefuchsten Strategien diverser TV-Shopping-Kanäle ausgeliefert, ungebremst in einen massiven Kaufrausch. Die Endorphin-Dopamin-Schwemme kann allerdings ihre Einsamkeit nicht kompensieren. Alsbald kann sie sich in ihrer kleinen Wohnung kaum noch drehen vor lauter Kosmetik-, Küchen- und Kleidungskram. Da erinnert sie sich an ihre Freundin Silke – die soll aus der Not helfen.
Von anderen Nöten geplagt ist Willy-Martin. Der mochte bisher seinen geruhsamen Job als Taubenschlagpfleger auf dem Anwesen eines Grafen, doch seit die Tiere Objekte adliger Zuchtambitionen geworden sind, ist es aus mit Ruhe und Zufriedenheit. Nach Feierabend flüchtet er sich als »HäuptlingRaimundo« in die Welt der Internet-Spiele. Beim Online-Kniffeln auf www.spielaffe.de (Obacht: gibt’s wirklich!) vergisst er alle Probleme, und selbst seine Allergien sind wie weggeblasen. Seiner stärksten Gegnerin Kerstin (»DieKnochenbrecherin«) begegnet er sogar persönlich, doch die beiden trennen Welten – sowie Golden Retriever »Bounty«, Kerstins sabbernder Bettgenosse. Da muss sich auch Willy-Martin etwas einfallen lassen.
Einen Ausbund an zeitgemäßer Innovationsbegeisterung hat die Autorin mit Herrn Marquardt geschaffen, dem frischgebackenen Chef der Bahnhofsmission. Mit seiner neuen Berufung hat er seinen früheren Beruf als Unternehmensberater keineswegs abgestreift. Der »Hardcore-Freichrist mit daumendicken Brillengläsern« will »das muffige Image« von Suppenküche, Armut und Leid umkrempeln, weg mit den Obdachlosen und Alkis, an deren Statt »junge Menschen anlocken, Studierende, die vorbeikommen, um ihre Infused-Water-Flaschen aufzufüllen, mal eben was googeln oder einen Powernap auf dem Massagesessel zu machen«.
In Fahrt kommt die Handlung im zweiten der drei Romanteile, als man zu einer gemeinsamen Reise nach Brandenburg aufbricht, um der pflegebedürftigen Frau Goebels ihren letzten Wunsch zu erfüllen: den sagenhaften Freizeitpark „Tropical Islands" sehen. Die Abenteuer der äußeren Handlung nehmen zu, aber auch die Längen in der Erzählung. Da wird die Substanz dann doch etwas dünn.
Dennoch ist Giulia Beckers Debüt keine bloße Blödelei. Die Autorin gehört seit 2015 zum Team von Jan Böhmermanns „NEO MAGAZIN ROYALE" und setzt ihre spitze Feder für gesellschaftliche, insbesondere feministische Fragen ein. Der Roman besticht durch einen eingängigen, unterhaltsamen Stil, amüsante Szenen, nicht enden wollende Kaskaden origineller Ideen, intelligenten Witz und unaufdringliche Ironie. Damit führt sie die Hohlheit aktueller Schlagwörter vor und entlarvt die verführerische Wirkung modischer Trends, wie beispielsweise die Beschwörung persönlichen Erfolges durch die rituelle Wiederholung von Phrasen („Ich ziehe Geld an wie ein Magnet.").
Die Personen geben reichlich Anlass zum Lachen und Lächeln, ohne lächerlich gemacht zu werden. Ihre Schicksale und Handlungen sind effektvoll pointiert, erwecken aber doch unsere Anteilnahme, denn es sind Scheiternde, Benachteiligte, Pechvögel in unserer Nachbarschaft, bisweilen nicht ohne Tragik. Frau Goebel etwa ist eine Seniorin, die den Tod vor sich weiß. Was das Äußere angeht, hat der Leser viel Freiheit, sich alles auszumalen, denn Giulia Becker verzichtet aus Prinzip auf jegliche konventionelle Charakterisierung (Alter, Äußeres ...).
Über manche allzu derb überzogene Szenen und Klischees (wie das des Radlers in Funktionskleidung auf hypertechnisch aufgemotztem Trike-Liegerad) muss man einfach schmunzelnd hinweglesen.