Am Ende siegt die Vernunft
Im Jahre 1924 werden zwei Jungen geboren, die - trotz ihrer diametral unterschiedlichen Charaktere, Lebensauffassungen und der räumlichen Entfernung zwischen ihnen - über 80 Jahre hinweg eine lockere Beziehung zueinander aufrecht erhalten und einander immer wieder mal begegnen werden.
Anton Bluhm kommt in Hannover zur Welt. Sein Vater Johann besitzt eine Papierfabrik. Die Folgen der Inflation bekommt er heftig zu spüren; die Aufträge gehen zurück. Da hört er von einem lukrativen Unternehmen, an dem man sich finanziell beteiligen kann. Im Gewölbekeller eines ehemaligen Nonnenklosters, des Amselhofs bei München, laboriert ein jüdischer Naturwissenschaftler in aller Heimlichkeit, doch vermögende Interessenten aus der gesellschaftlichen Oberschicht können den Erfolg seiner Arbeit bereits in Augenschein nehmen - eines unerhörten Verfahrens, an dem sich schon seit dem Mittelalter viele kluge Köpfe die Zähne ausgebissen, aber auch zahlreiche Scharlatane bereichert haben: Es geht um Alchemie, konkret um die Transformierung minderer Metalle in pures Gold. Mit viel Brimborium wird gut hör- und sichtbar in Kesseln geköchelt, bis am Ende der Wandlung ein glänzender Goldklumpen zum Vorschein kommt. Am Ende ist Johann Bluhm überzeugt und investiert in Anteilsscheine - zum größten Missfallen seiner Frau Katharina. Sie ist Katholikin. Wer Gold macht, glaubt sie, steht mit dem Teufel im Bunde, und sich mit dem einzulassen bringt nichts als Unglück.
Franz Münzer (ein speaking name?) wird in München geboren, und sein Vater Hubert ist der Bankier, der zusammen mit einem General die Fäden hinter der betrügerischen Produktionsgesellschaft "Goldmacher" zieht. An dem geschickt aufgezogenen Humbug, der Wunderglauben und Gier der Menschen ausbeutet, verdient sich der Banker eine goldene Nase. Johann Bluhm dagegen zieht den Kürzeren: Er wird nicht einmal seinen Einsatz zurückerhalten, und der Pleitegeier fordert seine deftigen Happen. Am Ende sind die Papierfabrik und die schöne Villa in Hannover perdu.
Schon als Kind gibt Anton seiner Mutter das Versprechen, alles Teufelswerk zu vernichten, den gutgläubigen Vater zu rächen und eines Tages alles zurückzuholen, was der Goldmacher ihnen genommen hat. (Leider wird die "kindliche Allmachtsfantasie" (S. 46) im weiteren Handlungsverlauf nicht zu einem spannungsschaffenden Motiv ausgearbeitet.)
Vater Johann, ein Protestant, ist fortan restlos gefeit gegen jegliche Art von Wundern menschlicher Provenienz. Als er mit seinem Sohn München besucht und ihm das verhängnisvolle Haus des Goldmachers zeigt, beschwört er ihn, er möge niemals auf einen menschlichen Heilsbringer hereinfallen. Nur "Gott kann Wunder vollbringen, Menschen nicht" (S. 59). Anton, gerade erst zehn Jahre alt, aber frühreif - Melvilles "Moby Dick" ist sein Geburtstagsgeschenk, und er liebt es - saugt die elterlichen Leitgedanken auf. Er wird ein durch und durch vernunftgeprägter Denker.
Das Schicksal verbindet die beiden Protagonisten Anton und Franz von dem Moment an, da sie einander zufällig begegnen. Die zwei Hitlerjungen werden als Erntehelfer zu einem Bauern in der Holsteinischen Schweiz abgeordnet. Der sportbegeisterte, durchtrainierte und einsatzfreudige Franz spielt sich auf, mokiert sich über den Bücherwurm Anton und zerfleddert vor aller Augen dessen Lieblingsbuch "Moby Dick". Wohl hatte er nicht mit Antons todesmutiger Abwehr gerechnet - daraufhin zieht Franz lieber den Schwanz ein. Und dann ist da auch noch eine seltsame kreisrunde Wunde mitten auf Antons Stirn. Anton hatte sie sich bei einer anderen Schlägerei zugezogen, doch als sie nun blutend wieder aufreißt, erscheint sie Franz als Zeichen, dass sein Kumpan ein Erleuchteter mit Führerqualitäten sein müsse. Ohne dass Anton recht weiß, wie ihm geschieht, ernennt ihn Franz zum Gruppenführer und salutiert mit Hitlergruß.
Aus dem Krieg kehren die beiden Jungen relativ unbeschadet zurück. Während Franz sich freiwillig als Fallschirmspringer bei der Luftwaffe gemeldet hatte, konnte sich Anton oft kränkelnd vor Einsätzen drücken. Dafür wird er jetzt von der britischen Kommandantur angestellt. Für die deutsche Nachkriegsleserschaft soll er Artikel aus der englischsprachigen Presse übersetzen, die in einem wöchentlich herauszugebenden Journal erscheinen sollen. So betritt der in erster Linie historisch interessierte und versierte Anton, der sich damals mit dem griechischen Historiker Thukydides beschäftigt hatte, das Feld des politischen Journalismus und prägt es am Ende selbst, als er in Hannover ein Presseimperium begründet; an seiner Chronik "Vom Untergang des Volkes der Dichter und Denker" arbeitet er zeitlebens, ohne sie je vollenden zu können.
Auch in München hatte sich derweil einiges verändert. Vater Hubert, der mit Nazigold - dem Zahngold der in den KZs Getöteten - dunkle Geschäfte gemacht hatte, wurde von den Amerikanern inhaftiert. Nach seiner Rückkehr schleuste er Franz, obwohl der ganz eigene Zukunftsträume hatte, in das vertraute Imperium des Bankwesens ein. Das nennt man vorausschauendes Agieren, denn wiederum wird einmal ein (Wirtschafts-) Wunder geschehen, und diesmal ist es Franz, der in den goldenen Aufbaujahren ein Vermögen macht.
Gisela Stellys Roman "Goldmacher" ist ein Parforce-Ritt durch die Zeiten über vier Generationen hinweg. Nach dem fesselnden Einstieg werden sämtliche geschichtsprägenden Ereignisse und Strömungen der Jahrzehnte angerissen: Vietnamkrieg, Friedensdemonstrationen, Studenten- und Hippiebewegung, freie Liebe, "Rote Armee Fraktion", kommunistische Umverteilungskonzepte, Mauerfall, Computerzeitalter, Spekulationsblase, Aktiencrash, das Twin-Tower-Attentat - doch wenig aus dieser langen Kette wird so gestaltet, dass es in nachhaltiger Erinnerung bliebe. Ereignisse werden skizziert, Entwicklungen angerissen, bedeutungsschwere Stichwörter fallen und verheißen Spannung - doch all das rollt wie eine Serie von Wogen auf uns zu, und kaum klatscht uns die Gischtkrone einer Welle ins Gesicht, ist sie schon wieder weg, und die nächste rauscht über uns hinweg. Es fehlt an schärfender Würze, an mitreißendem Engagement, an Profundität. So empfindet man den viel zu breit angelegten Familienroman insgesamt als konstruiert. Schon eine Reduzierung auf weniger, dafür lebendiger, überzeugender gestaltete Charaktere hätte Gewinn gebracht.
Ansprechend fand ich den schönen, sorgfältig gestalteten Sprachstil; der sachliche, sanfte, unaufgeregte Ton im ruhigen Erzählfluss erinnerte mich an Hermann Hesse und kann ähnliche Stimmungen erzeugen - wenngleich dem Altmeister so ein neumodischer Anglizismus wie "Franz erinnerte eine Geschichte" sicher nicht in den Sinn, geschweige denn aufs Papier gekommen wäre.
Gisela Stelly war 20 Jahre lang mit "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein verheiratet. Im August 2012 räumte die Autorin in einem Interview mit dem NDR über ihr Buch ein, dass Anton Bluhm unverkennbar Züge Rudolf Augsteins trage. Unbestechlichkeit zeichne ihren Protagonisten aus - und habe auch Augstein zu einer herausragenden Persönlichkeit gemacht.