Ein neuer Anfang
Wo war Judith Krieger? Nachdem die ersten Bände der Krimireihe seit 2005 quasi jährlich erschienen, tauchte die Kölner Kriminalkommissarin nach ihrem fünften Fall (»Nichts als Erlösung«, 2011 [› Rezension]) spurlos ab.
Jetzt wissen wir's. Real war sie einfach ad acta gelegt, weil ihre Schöpferin Gisa Klönne mal was anderes als Krimis schreiben wollte. Fiktiv legte sie ein Sabbatjahr ein, weil ihr die Arbeit mit all den Mördern und Leichen zugesetzt hatte und sie sich auch Gewissheit über ihre private Zukunft verschaffen wollte. Mit ihrem Partner Karl verbrachte sie einige Zeit in Kolumbien. Während Karl von der Demokratiebewegung des Landes im Umbruch begeistert war und blieb, zog es Judith zurück ins Rheinland, nachdem sie in Medellin dem brutalen Wirken der Drogenkartelle, den existentiellen Nöten der Ausgebeuteten, dem Leid der Opfer und dem Hass der um ihre Liebsten Beraubten begegnet war. Sie konnte nicht ahnen, dass die kolumbianische Pest sie in der Heimat einholen würde.
Zurück im Dienst muss Judith Krieger sich freilich erst einmal qualifizieren, um weiter Karriere machen zu können. An der Landespolizeiakademie in Münster-Hiltrup absolviert sie eine Prüfung und muss sich anschließend zwei Jahre lang auf einem Außenposten im Bergischen Land bewähren. Erst dann kann sie als Kriminalhauptkommissarin ins Kölner Polizeipräsidium einziehen, um die Leitung des »KK 62 Vermisstenfahndung« zu übernehmen. Ihre Vorgesetzte lässt keinen Zweifel aufkommen, was sie erwartet: Frau Krieger soll die Einheit endlich »aufräumen und ihre Leute zu einem Team formen«.
Kein einfacher Job in einer Abteilung, in der sich angehende Pensionäre, übergangene Mitbewerber um die Leiterstelle, Zuspätkommer, unprofessionelle Anfänger und mit ihrem Familienleben ringende Kollegen bisweilen nur widerwillig zusammenraufen. Die privaten Befindlichkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungsprobleme sind zwar unterhaltsam, nehmen aber doch ziemlich überhand und bremsen die ohnehin komplexe Krimihandlung aus.
Obendrein muss die beabsichtigte Dienstbesprechung zur Einnordung der diffizilen Mannschaft vorerst zurückgestellt werden. Denn gleich am ersten Arbeitstag wird Judith Krieger zu einem grausigen Tatort gerufen. Dort liegt die verschnürte Leiche von Angelo Jaramillo, einem Geschäftsmann aus Kolumbien. Das viele Blut, der Dreck, der Gestank von Exkrementen und nicht zuletzt der »Ring der O«, ein Symbol der Unterwerfung aus der SM-Szene, überwältigen die noch unerfahrene Kollegin Dinah. Ihr wird speiübel, sie erbricht sich just vor den Füßen ihrer neuen Chefin und verlässt den schrecklichen Ort. Am nächsten Tag fehlt sie, denn jetzt plagt sie außerdem das schlechte Gewissen. Die Vermisstenmeldung nach einem gewissen Jaramillo hatte auf ihrem Schreibtisch gelegen, doch sie hatte keine Lust gehabt, deswegen Überstunden zu kloppen.
Dreizehn Tage braucht die kämpferische Judith Krieger, um den Fall zu lösen, und im Wesentlichen ist es ein Alleingang. Der Auslöser für das Verbrechen liegt – welch schöner Zufall – in Medellin und Umland, wo sich die Kommissarin ja nun ein bisschen auskennt. Per Skype hält sie Kontakt mit einem Ermittler in Kolumbien, der sie in ihren immer wieder neu entwickelten Vermutungen mit Fakten unterstützt.
Damit erfährt Gisa Klönnes Kölscher Krieger-Krimi eine Weitung aufs internationale Parkett und sticht in ein undurchschaubares, brandgefährliches Wespennest. Lange Jahre haben blutige Kämpfe zwischen Armee, FARC, linken Guerillagruppen und rechten Paramilitärs das Leben Kolumbiens zermürbt, 260.000 Menschen starben, sieben Millionen Menschen flohen aus ihrer Heimat, während Pablo Escobar, einer der skrupellosesten Gangster der Welt, seine Spielräume nutzte, um ein Drogenimperium von globaler Relevanz aufzubauen.
Der sechste Band der zu neuem Leben erweckten Serie überzeugt durch einen wendungsreichen Handlungsgang diesseits und jenseits des Atlantiks, eine vitale Erzählsprache, die oft in einer Art staccato vorwärts drängt, und eine toughe Protagonistin, die sich wenig um enge Richtlinien schert, sondern vor allem am Ende, wenn es ums Ganze geht, unkonventionelle Wege beschreitet.