Der Mörder schweigt
Pietro Fenoglio, ein Maresciallo der Carabinieri, hätte allen Grund, sich zu freuen, als sich der Mord an einer zwielichtigen Persönlichkeit quasi von selbst aufklärt. Eine Nachbarin sah einen jungen Mann mit einer Plastiktüte eilig hinauslaufen und mit dem Auto davonrasen; die Zeugin hat nicht nur die Autonummer notiert, sondern auch die Tüte in einem Müllcontainer gefunden. So ist der Verdächtige schnell ausgemacht und durch die Fingerabdrücke aus dem Müll so gut wie überführt.
Aber Fenoglio ist ein grundsätzlicher Zweifler. Einfache Wege zu gehen ist nicht seine Art. Seine Bedenken lassen ihn nicht ruhen. Hier scheint etwas nicht zusammenzupassen: Alle Indizien sprechen eindeutig gegen den jungen Mann, aber der macht einen anständigen Eindruck, hat sich nichts zuschulden kommen lassen und hatte keinen Grund, diesen Menschen brutal umzubringen.
Überraschenderweise fügt sich der Mann jedoch in sein Schicksal. Seine Verhaftung nimmt er hin, er verteidigt sich nicht, er spricht kein Wort. Was verbirgt er, was bezweckt er?
Seine Verlobte setzt sich umso entschiedener für ihn ein. Überzeugt von seiner Unschuld, verschafft sie sich Gehör bei maresciallo Fenoglio. Der beschreitet nun eigene Wege, um herauszubekommen, wer den Mord begangen hat und was hinter dem eigenartigen Verhalten des Beschuldigten steckt.
Zwar führen ihn seine Untersuchungen zu ganz anderen Wahrheiten, und er muss Entscheidungen mit weitreichenden Folgen treffen. Doch die Auflösung der Rätsel ist für den aufmerksamen Leser nicht unvorhersehbar. Wichtiger als der Krimi-Plot sind, wie oft bei Carofiglio, philosophische, psychologische oder juristische Fragestellungen, in deren Mittelpunkt hier die Suche nach der Wahrheit steht.
Der komplexe, nicht unproblematische Charakter des Ermittlers Fenoglio ist darauf zugeschnitten, diese Überlegungen zu transportieren. Er ist ein eher verschlossener Mensch, grüblerisch, stets kritisch anderen, der Realität und sich selbst gegenüber, und darüber hinaus ist er schriftstellerisch begabt.
Die Figur des gebürtigen Piemontesers, den sein Beruf weit herum geführt hat, ehe er jetzt – es sind die Achtziger Jahre – in Bari arbeitet (wie sein Schöpfer Carofiglio), fügt dem breiten Spektrum von fiktiven carabinieri-Persönlichkeiten eine weitere ganz eigener Art hinzu. Carabinieri sind eine traditionsreiche und stolze Abteilung im Polizeiwesen Italiens, die sich ihrer Verdienste ebenso bewusst sind wie ihres Vorbildcharakters. So ist es wenig verwunderlich, aber dennoch eine originelle Idee, dass sich die Arma dei Carabinieri (dt. »Karabinier-Truppe« ) anlässlich des 200. Jahrestages ihrer Gründung auch literarisch feiert. In Kooperation mit dem Verlag Einaudi wurden vier Bücher von Autoren der ersten Liga aufgelegt, die den Ruhm der Zunft zu mehren vermögen. Eine Sonderausgabe wurde nur an carabinieri abgegeben! Die vier Titel erzählen vom Wirken der carabinieri durch die Zeiten. Auf Deutsch ist bislang nur Carofiglios Buch erschienen; Monika Lustig hat es übersetzt.
• 1846-48: Giancarlo De Cataldo: »Nell'ombra e nella luce« [› Rezension] (Oktober 2014) – Der historische Kriminalroman spielt in Turin, mitten in den ideologischen Wirren der Gründungszeit des italienischen Nationalstaats und des Aufstands gegen Österreich. Zwischen Revolutionären und Vertretern der alten Ordnung, schönen Frauen, Freunden und Feinden jagen die carabinieri einen Serienmörder.
• 1899: Carlo Lucarelli: »Albergo Italia« [› Rezension] (Juni 2014) – Der meisterhafte historische Kriminalroman um den carabiniere Colaprico und seinen einheimischen Assistenten Ogbà schildert das Leben in der italienischen Kolonie Eritrea anno 1899. Hinter einem scheinbar belanglosen Diebstahl aus einem militärischen Warenlager und einem vorgetäuschten Selbstmord im repräsentativen Nobelhotel werden Missstände sichtbar, die das italienische Gemeinwesen noch heute belasten.
• 1980er Jahre: Gianrico Carofiglio: »Una mutevole verità« [› Rezension] (Juli 2014) – Der Mörder ist schnell gefasst und durch Indizien eindeutig überführt, doch maresciallo Fenoglio traut dieser Wahrheit nicht. Ein philosophisch angehauchter Krimi.
• 1980er Jahre: Valerio Massimo Manfredi: »Le inchieste del colonnello Reggiani« [› Rezension] (April 2015) – Die fünf Kriminalgeschichten erzählen von der Aufklärung spektakulärer Kunstdiebstähle. Die carabinieri agieren auf internationalem Parkett, um italienisches Kulturgut zu retten.