Die Tote von Anglona
von Gianpietro Montano
Gianpietro Montano verwebt Familiengeschichte, kulturelle Identität und die italienische Migration der Fünfzigerjahre zu einem atmosphärisch dichten Debüt. Sein Protagonist begibt sich auf eine Spurensuche in die Basilikata, die ihn mit der Vergangenheit seines italienischen Vaters und den Herausforderungen des Lebens zwischen zwei Welten konfrontiert.
Zwischen zwei Welten
Gianpietro Montanos Debütroman beginnt mit einem Satz, der Spannung verspricht: »Als er näher trat, wurde Achim klar, dass die Frau tot war.« Doch entgegen der Erwartung, dass nun ein klassischer Kriminalroman folge, entpuppt sich »Die Tote von Anglona« als interessante, persönliche, unterhaltsame Auseinandersetzung mit der italienischen Migration der 1950er-Jahre und den daraus resultierenden Identitätskonflikten. Der Autor schöpft dabei aus seinem eigenen Hintergrund als Sohn eines süditalienischen Einwanderers, was dem Roman eine besondere Authentizität verleiht.
Im Zentrum der Geschichte steht Achim Crocco, ein 61-jähriger Historiker, der als Wissenschaftler überzeugt ist, dass es für jedes Phänomen eine »logische Erklärung« geben muss. So geht er als Deutscher mit italienischen Wurzeln auch den Fragen nach, wo er hingehöre, wer er eigentlich sei. Sein Vater Giovanni war in den Fünfzigerjahren als Gastarbeiter aus der Basilikata ins Ruhrgebiet gekommen und sprach nur widerwillig über seine Herkunft. Die Basilikata bezeichnete er als »eine Gegend ohne Zukunft«, in der es »nichts zu sehen« gab, und er war froh, ihr entkommen zu sein. Er heiratete eine Deutsche und gab seinem Sohn einen unmissverständlich deutschen Namen. Welche Wunden muss die Verleugnung seiner Vergangenheit, das radikale Abtrennen seiner kulturellen Wurzeln hinterlassen haben?
Erst nach Giovannis Tod erfährt Achim, dass der Vater ihm in Campomaggiore, seiner Heimatstadt in der rückständigen, armen Provinz Potenza, ein Haus und ein paar wertlose Liegenschaften in der Umgebung vererbt hat. Auf der Suche nach Antworten beschließt Achim, sich auf Spurensuche in die Basilikata zu begeben.
Gianpietro Montano (übrigens ein Pseudonym) schildert die Gegend mit einer eindrucksvollen Detailtiefe. Seine Beschreibungen der oft reizvollen Bergdörfer und der Landschaft der »lukanischen Dolomiten«, dazu kunsthistorische Einblicke, etwa auf die Basilika Santa Maria Regina di Anglona mit ihren mittelalterlichen Fresken, lassen die abgelegene, dünn besiedelte Region im Süden Italiens lebendig werden. Bekannt war sie allenfalls durch Carlo Levis Roman »Cristo si è fermato a Eboli« (1945, dt. »Christus kam nur bis Eboli«) [› Rezension] oder durch dessen Verfilmung durch Francesco Rosi (1979) als Ort von Armut, Rückständigkeit und Tristesse. Im Jahr 1980 hat ein Erdbeben der ohnehin benachteiligten Gegend großen Schaden zugefügt.
Erst seit Matera 2019 »Europäische Kulturhauptstadt« wurde, hat die Basilikata nicht nur für den Tourismus massiv an Attraktion gewonnen. In Giovanni Croccos verschmähter Heimat, südöstlich von Potenza, liegen gleich drei der neun schönsten Dörfer der Basilikata nah beieinander: Castelmezzano, Guardia Perticara und Pietrapertosa gehören zu den »Borghi più belli d’Italia«. Andererseits spart der Autor nicht aus, dass der langsame Übergang in die Moderne auch manch Zweifelhaftes mit sich bringt, etwa die Planung der größten Sondermülldeponie Europas.
In den Fünfzigerjahren aber war die wirtschaftliche Lage in Lukanien in der Tat noch hoffnungslos. Das Auswandern hatte hier schon eine Jahrzehnte lange Tradition, und Achims Vater war nur einer von vielen Männern, die in der unbekannten Ferne ein besseres Leben suchten.
Der Roman richtet unser Augenmerk auf die schwierige Lebensrealität jener Menschen, die in der Heimat zurückblieben. Costanza Gentile war eine von ihnen und wird nach ihrem Tod in der Kirche von Anglona zur Schlüsselfigur für Achims Reise: Sie ist nicht nur eine stille Zeugin der Auswanderungswelle, sondern auch eine Verbindung zur Geschichte seiner eigenen Familie.
Costanzas beide Brüder waren ebenfalls nach Norden gezogen, und Achim erfährt in Gesprächen mit ihren Nachbarn und Nachfahren von den Sorgen, Nöten und Hoffnungen der Zurückgelassenen. Werden ihre ausgewanderten Verwandten je zurückkommen? Werden sie sie je wiedersehen? Zumeist warteten ihre armseligen Häuser, die traditionell in Familienbesitz bleiben, vergeblich auf die Heimkehrer.
Die andere Seite der Vergangenheit beschreibt die schwierigen Anfänge der italienischen Gastarbeiter als nicht immer gern gesehene Fremde in Deutschland. Die meist jungen Männer zogen allein in ein Land, dessen Sprache sie nicht kannten, die oft in erbärmlichen Behausungen untergebracht wurden und unter starken Vorurteilen leiden mussten. Erst Jahre später erlaubte man ihnen, ihre Familien zu sich zu holen.
Montanos Sprache ist reich an Nuancen und Atmosphäre. Mit großer Hingabe porträtiert er Menschen und Traditionen, so dass wir Leser förmlich in das Leben der Basilikata eintauchen, die unverfälschte italienische Lebensart nachvollziehen können. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Darstellungen kulinarischer Genüsse (wie »Orecchiette con cima di rapa«). Der große Dialoganteil im Roman trägt viel zur Lebhaftigkeit des Bildes bei. Für Süditalien-Fans ist die Fülle an untergebrachten Informationen aller Art ein Segen. Sie bekommen quasi beiläufig einen kleinen Reiseführer, der ihnen das etwas abgelegene, aber äußerst reizvolle Ziel ans Herz legt.
Trotz seiner literarischen Qualitäten verlangt der Roman den Lesern einiges ab. Die Erzählstruktur ist episodenhaft, wobei der fragmentierte Aufbau und der Detailreichtum es manchmal erschweren, den Überblick zu behalten. Deswegen sind zwei editorische Ergänzungen hier besonders hilfreich: Gleich am Anfang des Buches sind alle Personen mit Stichworten zu ihren verwandtschaftlichen Beziehungen verzeichnet, und zwar nicht alphabetisch angeordnet, sondern in der Reihenfolge, wie die Figuren im Lauf der Erzählung auftreten, und auf den Schlussseiten findet sich ein siebenseitiges Glossar italienischer Begriffe.
(Übrigens hat der Autor auch eine private Webseite https://www.gianpietromontano.com/ , auf der er neben Informationen zu seinem Buch, seinem Protagonisten und sich selbst hübsche Fotos und allerlei Interessantes über die Basilicata präsentiert.)
»Die Tote von Anglona« ist ein beeindruckendes literarisches Debüt, das Historie, persönliche Suche und kulturelle Reflexion auf eingängige, unterhaltsame Weise miteinander verbindet. Sein Grundanliegen ist nicht Sozialkritik, nicht das Anprangern von misslungener Integration, sondern das Hineinhorchen in die eigene Befindlichkeit, die Hinterfragung der eigenen Identität, die Erkundung der unbekannten Wurzeln. Es ist ein Buch für Leser, die bereit sind, sich auf eine vielschichtige und emotionale Auseinandersetzung einzulassen, die durch atmosphärische Dichte überzeugt und deren Relevanz weit über die erzählte Geschichte der Familie Crocco hinausgeht.
Im Übrigen irrt Giovanni Crocco gewaltig: Die Basilikata hat unendlich viel Schönes zu bieten. Jedem Freund Italiens sei das Buch ans Herz gelegt; jeder Liebhaber Süditaliens wird es genießen; für jeden, der die Basilikata liebt, ist es ein Muss.