Rezension zu »Die Tote von Anglona« von Gianpietro Montano

Die Tote von Anglona

von


Gianpietro Montano verwebt Familiengeschichte, kulturelle Identität und die italienische Migration der Fünfzigerjahre zu einem atmosphärisch dichten Debüt. Sein Protagonist begibt sich auf eine Spurensuche in die Basilikata, die ihn mit der Vergangenheit seines italienischen Vaters und den Herausforderungen des Lebens zwischen zwei Welten konfrontiert.
Belletristik · BoD · · 270 S. · ISBN 9783758334443
Sprache: de · Herkunft: de · Region: Kalabrien und Basilicata

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Zwischen zwei Welten

Rezension vom 29.01.2025 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Gianpietro Montanos Debütroman beginnt mit einem Satz, der Spannung ver­spricht: »Als er näher trat, wurde Achim klar, dass die Frau tot war.« Doch entgegen der Erwartung, dass nun ein klassi­scher Kriminal­roman folge, entpuppt sich »Die Tote von Anglona« als interes­sante, persön­liche, unter­halt­same Aus­ein­ander­setz­ung mit der italieni­schen Migration der 1950er-Jahre und den daraus resul­tieren­den Identi­täts­kon­flikten. Der Autor schöpft dabei aus seinem eigenen Hinter­grund als Sohn eines süd­italieni­schen Einwan­derers, was dem Roman eine besondere Authen­tizität verleiht.

Im Zentrum der Geschichte steht Achim Crocco, ein 61-jähriger Histo­riker, der als Wissen­schaftler überzeugt ist, dass es für jedes Phänomen eine »logische Erklärung« geben muss. So geht er als Deutscher mit italieni­schen Wurzeln auch den Fragen nach, wo er hingehöre, wer er eigent­lich sei. Sein Vater Giovanni war in den Fünf­ziger­jahren als Gast­arbeiter aus der Basili­kata ins Ruhr­gebiet gekommen und sprach nur wider­willig über seine Herkunft. Die Basili­kata bezeich­nete er als »eine Gegend ohne Zukunft«, in der es »nichts zu sehen« gab, und er war froh, ihr entkommen zu sein. Er heiratete eine Deutsche und gab seinem Sohn einen un­miss­ver­ständ­lich deutschen Namen. Welche Wunden muss die Ver­leug­nung seiner Ver­gangen­heit, das radikale Abtrennen seiner kultu­rellen Wurzeln hinter­lassen haben?

Erst nach Giovannis Tod erfährt Achim, dass der Vater ihm in Campo­maggiore, seiner Heimat­stadt in der rück­stän­digen, armen Provinz Potenza, ein Haus und ein paar wertlose Liegen­schaften in der Umgebung vererbt hat. Auf der Suche nach Antworten be­schließt Achim, sich auf Spuren­suche in die Basili­kata zu begeben.

Gianpietro Montano (übrigens ein Pseudo­nym) schildert die Gegend mit einer ein­drucks­vollen Detail­tiefe. Seine Be­schrei­bun­gen der oft reiz­vollen Berg­dörfer und der Land­schaft der »lukani­schen Dolo­miten«, dazu kunst­histo­rische Einblicke, etwa auf die Basilika Santa Maria Regina di Anglona mit ihren mittel­alter­lichen Fresken, lassen die abge­legene, dünn besie­delte Region im Süden Italiens lebendig werden. Bekannt war sie allen­falls durch Carlo Levis Roman »Cristo si è fermato a Eboli« (1945, dt. »Christus kam nur bis Eboli«) [› Rezension] oder durch dessen Verfil­mung durch Fran­cesco Rosi (1979) als Ort von Armut, Rück­ständig­keit und Tris­tesse. Im Jahr 1980 hat ein Erdbeben der ohnehin be­nach­teilig­ten Gegend großen Schaden zuge­fügt.

Erst seit Matera 2019 »Europäische Kultur­haupt­stadt« wurde, hat die Basili­kata nicht nur für den Tou­ris­mus massiv an Attrak­tion gewon­nen. In Giovanni Croccos ver­schmäh­ter Heimat, süd­öst­lich von Potenza, liegen gleich drei der neun schönsten Dörfer der Basili­kata nah bei­ein­ander: Castel­mezzano, Guardia Perticara und Pietra­pertosa gehören zu den »Borghi più belli d’Italia«. Anderer­seits spart der Autor nicht aus, dass der langsame Übergang in die Moderne auch manch Zweifel­haftes mit sich bringt, etwa die Planung der größten Sonder­müll­depo­nie Europas.

In den Fünfzigerjahren aber war die wirt­schaft­liche Lage in Luka­nien in der Tat noch hoff­nungs­los. Das Aus­wandern hatte hier schon eine Jahr­zehnte lange Tradi­tion, und Achims Vater war nur einer von vielen Männern, die in der unbe­kannten Ferne ein besseres Leben suchten.

Der Roman richtet unser Augenmerk auf die schwie­rige Lebens­realität jener Menschen, die in der Heimat zurück­blieben. Costanza Gentile war eine von ihnen und wird nach ihrem Tod in der Kirche von Anglona zur Schlüs­sel­figur für Achims Reise: Sie ist nicht nur eine stille Zeugin der Aus­wande­rungs­welle, sondern auch eine Verbin­dung zur Ge­schichte seiner eigenen Familie.

Costanzas beide Brüder waren ebenfalls nach Norden gezogen, und Achim erfährt in Gesprä­chen mit ihren Nachbarn und Nach­fahren von den Sorgen, Nöten und Hoff­nungen der Zurück­gelasse­nen. Werden ihre ausge­wan­derten Ver­wand­ten je zurück­kom­men? Werden sie sie je wieder­sehen? Zumeist warteten ihre arm­seligen Häuser, die tradi­tionell in Familien­besitz bleiben, vergeb­lich auf die Heim­kehrer.

Die andere Seite der Vergangenheit beschreibt die schwie­rigen Anfänge der italieni­schen Gast­arbeiter als nicht immer gern gesehene Fremde in Deutsch­land. Die meist jungen Männer zogen allein in ein Land, dessen Sprache sie nicht kannten, die oft in erbärm­lichen Behau­sungen unter­gebracht wurden und unter starken Vorur­teilen leiden mussten. Erst Jahre später erlaubte man ihnen, ihre Familien zu sich zu holen.

Montanos Sprache ist reich an Nuancen und Atmos­phäre. Mit großer Hingabe porträ­tiert er Menschen und Tradi­tionen, so dass wir Leser förmlich in das Leben der Basili­kata ein­tauchen, die unver­fälschte italie­nische Lebens­art nach­voll­ziehen können. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Dar­stel­lun­gen kulina­rischer Genüsse (wie »Orecchiette con cima di rapa«). Der große Dialog­anteil im Roman trägt viel zur Leb­haftig­keit des Bildes bei. Für Süd­italien-Fans ist die Fülle an unter­ge­brach­ten Infor­matio­nen aller Art ein Segen. Sie bekommen quasi beiläufig einen kleinen Reise­führer, der ihnen das etwas abge­legene, aber äußerst reiz­volle Ziel ans Herz legt.

Trotz seiner literarischen Qualitäten verlangt der Roman den Lesern einiges ab. Die Erzähl­struk­tur ist epi­soden­haft, wobei der frag­men­tierte Aufbau und der Detail­reich­tum es manch­mal er­schweren, den Über­blick zu behalten. Deswegen sind zwei edito­rische Ergän­zungen hier besonders hilfreich: Gleich am Anfang des Buches sind alle Personen mit Stich­worten zu ihren ver­wandt­schaft­lichen Bezie­hun­gen ver­zeich­net, und zwar nicht alpha­betisch ange­ord­net, sondern in der Reihen­folge, wie die Figuren im Lauf der Erzähl­ung auftreten, und auf den Schluss­seiten findet sich ein sieben­seitiges Glossar italieni­scher Begriffe.
(Übrigens hat der Autor auch eine private Webseite https://www.gianpietromontano.com/ , auf der er neben Informationen zu seinem Buch, seinem Protagonisten und sich selbst hübsche Fotos und allerlei Interessantes über die Basilicata präsentiert.)

»Die Tote von Anglona« ist ein beeindruckendes literarisches Debüt, das Historie, persön­liche Suche und kultu­relle Reflexion auf ein­gängige, unter­halt­same Weise mit­einan­der verbin­det. Sein Grund­an­liegen ist nicht Sozial­kritik, nicht das An­pran­gern von miss­lunge­ner Inte­gration, sondern das Hinein­hor­chen in die eigene Be­find­lich­keit, die Hinter­fragung der eige­nen Iden­tität, die Erkun­dung der unbe­kann­ten Wurzeln. Es ist ein Buch für Leser, die bereit sind, sich auf eine viel­schich­tige und emo­tionale Aus­einan­der­set­zung einzu­lassen, die durch atmos­phäri­sche Dichte über­zeugt und deren Rele­vanz weit über die erzählte Geschichte der Familie Crocco hinaus­geht.

Im Übrigen irrt Giovanni Crocco gewaltig: Die Basilikata hat unendlich viel Schönes zu bieten. Jedem Freund Italiens sei das Buch ans Herz gelegt; jeder Lieb­haber Süd­italiens wird es genießen; für jeden, der die Basili­kata liebt, ist es ein Muss.


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