Rezension zu »Bei Licht ist alles zerbrechlich« von Gianni Solla

Bei Licht ist alles zerbrechlich

von


Davide, 12, ist Schweinehirt. Seine Familie und sein süditalienisches Dorf lassen ihm keine Chance auf Anerkennung, Bildung und Aufstieg. Die bewunderte Teresa und Nicolas aus Neapel eröffnen ihm zwar einen Blick in andere Welten, aber die politische Lage im Jahr 1942 belastet selbst kindliches Zusammenleben. Doch dank der Inspirationen der Freunde und der Kraft der Sprache findet Davide seinen Weg.
Belletristik · Diogenes · · 312 S. · ISBN 9783257073126
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Süditalien

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Der Schweinehirt und die Kraft des gestalteten Wortes

Rezension vom 21.10.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Anders als es sein Familienname erhoffen lässt (»Buonasorta«, dt. »Glück«), ver­sprechen die Lebens­um­stände unseres unge­fähr zwölf­jähri­gen Ich-Erzäh­lers wenig Gutes. Davide wohnt mit seinen Eltern und der drei Jahre jüngeren Schwester Rosetta in einem abgele­genen süd­italieni­schen Bergdorf zwischen Monte Cassino und Caserta. Rosetta darf die Grund­schule besuchen, Davide nicht. Wozu auch? Für das Dasein eines Schweine­hirten reicht es nach Ansicht seines Vaters Fortunato (»der Glück­liche«) voll aus, wenn er seine paar Tiere zu­sammen­zählen kann. Dies ist denn auch die Aufgabe, die Fortu­nato für seinen Sohn bestimmt hat. Vom Lernen hält er schon aus Prinzip nichts – auch er und seine Frau haben nie lesen und schreiben gelernt –, und ohnehin ist Davide wegen seiner ange­bore­nen Geh­behinde­rung zu nichts nutze. Schlimmer noch: Dieser Sohn, »der sich hinke­beinig durchs Dorf bewegte, war zu seiner Schande geworden.« In seinem Jähzorn behandelt ihn der Vater oft schlech­ter als die Schweine.

Originalausgabe:
»Il ladro di quaderni«
(2023, Verlag Einaudi)
Gianni Solla: »Il ladro di quaderni« auf Bücher Rezensionen
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Übersetzung:
Verena von Koskull

Davide führt ein einsames Leben. Auch die gleich­altrigen Dorf­jungen haben nichts als Schmäh­rufe für ihn übrig. Seine einzigen Bezugs­wesen sind die Schweine, bei denen auch sein Schlaf­platz ist. Stets verdreckt und nach Schweine­stall stinkend muss er sich als Einzel­gänger durch­schlagen. Doch trotz allem sind sein Verstand und seine Sensi­bilität keines­wegs abge­stumpft. Er fühlt sich hinge­zogen zu der ein Jahr älteren Teresa. Als Tochter des Seilers gehört sie zu den besseren Kreisen. Sie erledigt schon die Büro­tätig­keiten für ihren Vater und hat sich große Ziele im Leben gesteckt: Als erstes will sie so schnell wie möglich weg aus der ärmlichen Land­bauern­gegend. Ihr All­gemein­wissen und ihre Persön­lich­keit üben eine un­wider­steh­liche Anzie­hungs­kraft auf Davide aus. Sie bringt ihm ein bisschen Lesen und Schreiben bei, bis ihr Vater dem Schweine­hirten den Zutritt zur Seilerei verbietet.

Seit zwei Jahrzehnten regiert ein starker Mann das Land, Benito Musso­lini, der »Duce«. Inzwi­schen befindet man sich im Krieg. Vater Fortunato ist Mitglied der Faschis­tischen Partei, aber Davide weiß nicht viel über solche Dinge, wie zum Beispiel die geheime Namens­liste, die im Büro des Bürger­meisters liegen soll. Es geht um Juden, die aus anderen Gegenden zur Zwangs­arbeit in der Land­wirt­schaft ver­trieben wurden, die aber kein Dorf auf­nehmen will. Die all­gegen­wärtige Propa­ganda zur systema­tischen Aus­grenzung der Juden aus der Gesell­schaft tut ihre Wirkung.

Als eines Tages eine Gruppe Juden aus Neapel eintrifft, ist Davide auf den ersten Blick von dem gleich­altrigen Nicolas einge­nommen. Seine Schönheit und Zer­brech­lich­keit, die feine Kleidung und das selbst­sichere Auftreten des Jungen, der mit seinem Vater ange­kommen ist, begeis­tern ihn, und er sucht die Freund­schaft mit dem Fremden. Doch die ist in diesen Zeiten unmög­lich. Nicht nur Vater Fortu­nato, sondern auch die Dorf­gemein­schaft ein­schließ­lich der Jugend­lichen lehnen die Neuan­kömm­linge vehement ab.

Davide gerät in Konstel­lationen, die er nicht lösen kann. Er freut sich, dass Nicolas Vater in aller Heim­lich­keit Teresas Lese- und Schreib­unter­richt fortführt, muss aber Ärger mit seinem Vater fürchten, sollte der da­hinter­kommen. Eines Tages bietet sich ihm eine Ge­legen­heit, endlich in den Kreis der Dorf­jugend aufge­nommen zu werden, doch der Preis ist hoch. Als Fortunato vom Umgang seines Sohnes mit den Juden erfährt, reagiert er mit unge­heurer Bruta­lität, und das lange schwe­lende Zer­würf­nis mit seiner Familie bricht sich endgültig Bahn. Zwar erledigt Davide weiterhin folgsam alle Aufgaben, doch Halt kann ihm nun einzig die Nähe zu Teresa geben. Gemeinsam mit ihr und Nicolas streift er durch Feld und Flur, bis sich neue schmerz­volle Konflikte ergeben. Auch der zu Ende gehende Krieg mit dem Sturz Musso­linis und dem letzten Auf­bäumen der Deutschen bringt unge­ahntes Leid.

Gianni Solla, geboren 1974 in Neapel, beweist ein feines Einfüh­lungs­vermögen für seine Figuren. Seine natür­liche, un­präten­tiöse, dennoch aus­drucks­reiche Sprache eröffnet uns (dank Verena von Koskulls Über­setzung) sehr lebhaft und diffe­ren­ziert das Innen­leben seiner drei Prota­gonis­ten und das komplexe Netz ihrer Bezie­hungen unter­einander und zu ihrem Umfeld über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. Seit dem Augen­blick des Kennen­lernens sind die drei eng mit­einan­der verwoben. Im Mittel­punkt steht natur­gemäß der innere Wandel des Ich-Erzählers. Nachdem er insgeheim elemen­tare Fertig­keiten und Erkennt­nisse ver­mit­telt bekom­men hat, eman­zipiert sich Davide, der ewig Unter­drückte, aus eigener Kraft. Er erweitert seine Sprach­kompe­tenz und verfolgt eine kluge Strategie, um sich von der Familie mit dem despo­tischen Vater und dem ver­ständ­nis­losen Leben in seinem Heimat­dorf zu befreien. Sein kraft­voller Wider­sacher spürt längst, dass der Sohn in ein anderes Leben aus­brechen wird, und greift zu rabiaten Mitteln, um seine Macht zu bewahren, doch halten können sie den Jungen nicht. Sollas Roman (ange­regt von einer wenig bekannten his­tori­schen Be­geben­heit) wird damit zu einem Beleg für die Kraft der Literatur im Leben des Menschen. Das gestal­tete Wort öffnet das Tor zu fremden Welten und Kultur­kreisen.

Mühselig, doch schließlich erfolg­reich baut sich Davide in Neapel ein neues Leben auf. Wegen seiner körper­lichen Beein­trächti­gung wird er nicht einmal für ein­fachste Hilfs­arbei­ten einge­stellt, findet aber Anschluss, wo es um Sprache, Gestik und Mimik geht, und schult sich selbst als mono­logisie­render Einzel­künstler, der seine Zuschauer zu begeis­tern vermag, wo immer er auftritt. Er zehrt dabei weiter von den Inspira­tionen seiner Jugend­freunde, die ihn wie dunkle Schatten begleiten. So hatte ihn Nicolas durch aus dem Stehgreif zitierte Shake­speare-Auszüge nach­haltig beein­druckt, und die Erfahrung beflügelt ihn nun als Schau­spieler.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2024 aufgenommen.


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