L’onore e il silenzio
von Gianni Mattencini
1924: An der Baustelle einer Eisenbahnbrücke in Kalabrien wird ein Ingenieur ermordet – auf den ersten Blick ein Ehrenmord. Das Wesen der Einwohner, die wilde Landschaft und undurchsichtige Beziehungen erschweren die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, der Carabinieri und des Vorarbeiters der Baukolonne.
Ein sprechender Leichnam
Abgelegen, wild und unwegsam ist das kalabrische Inland. Jahrhunderte lang waren Dörfer und Natur sich selbst überlassen. Erst die Eisenbahn schuf im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Zu- und Durchgänge von Neapel und Bari her nach Reggio Calabria und Sizilien, Nebenbahnen erschlossen dann auch Seitentäler. Einen solchen Ort, wo Rückständigkeit und Fortschritt aufeinanderstoßen, hat Gianni Mattencini, Richter in Bari, als Schauplatz seines dritten Buches ausgewählt. Es ist ein ungewöhnlich kultivierter Kriminalroman, den zu lesen ästhetisches Vergnügen bereitet.
Borgodivalle, ein fiktives Dörfchen mit im Umland verstreuten Bauern- und Hirtenbehausungen, vielleicht am Nordhang des Sila-Gebirges gelegen, hat bereits einen winzigen Bahnhof und einen Stationsvorsteher, doch bislang rauschen die wenigen Züge durch, ohne anzuhalten. Nun soll ein Abzweig geschaffen werden. Manche Einwohner hegen große Hoffnungen, welche Segnungen und Reichtümer ihnen die Zukunft bringen werde. Als am Montag, dem 10. November 1924, der Bautrupp aus Bari anrückt – ein Dutzend Männer jeden Alters und unterschiedlichen Wesens – und zum Abendessen im einzigen Gasthaus einkehrt, platzen die Stammgäste vor Neugier, doch nur der massige Wirt Giacomone wagt es, ein paar geschickte Fragen zu lancieren, um seine geschäftlichen Prognosen auszuloten.
Die Arbeiter sollen zunächst eine moderne Stahlbrücke über den Fluss Crati schlagen, der weiter unten ins Ionische Meer mündet. Ein paar Waggons auf einem Abstellgleis dienen ihnen als Unterkunft, Küche, Büro und Werkstatt. Ihr Kolonnenführer ist der von allen respektierte und geschätzte Gennaro Loiacono, geradlinig, verantwortungsbewusst, fürsorglich und verständnisvoll. Die technische Aufsicht obliegt dem Ingenieur Alessandro Alessi von der Direktion Bari der Ferrovie dello Stato. Doch schon kurz nach seiner Ankunft in Borgodivalle findet man die Leiche dieses Mannes an einem Hang nicht weit vom Flussbett. Der Mörder hat nicht nur seine Kehle durchschnitten, sondern ihn auch blutig entmannt.
Was liegt angesichts dieses vielsagenden Tatbestandes näher, als einen »Ehrenmord« zu vermuten, den Racheakt einer geschändeten Frau oder ihrer Angehörigen? Alles, was man über Alessi erfährt, unterstützt so eine Annahme. Er war ein feiner Herr, gut aussehend, gebildet, charmant und ein notorischer Verführer, offenbar ständig auf der Pirsch nach attraktiven Frauen. Seine Abenteuer waren auch seiner eleganten, ernsten Gemahlin Giorgina nicht verborgen geblieben, doch wissend, dass sie mit ihrer wenig ausgeprägten Fraulichkeit (»Fianchi sterili, gambe magre, sedere piatto e arido. Tutto come in un sentimento avaro, un trasporto misurato, una richiesta d’amore negata«) seine Erwartungen schwerlich erfüllen konnte, ertrug sie seine Obsession mit dem ihr eigenen »portamento da padrona e da vera signora«.
Für die Aufklärung der schändlichen Tat ist die königliche Staatsanwaltschaft im mehr als zweihundert Kilometer entfernten Bari zuständig. Man entsendet zwei Carabinieri, den brigadiere Maisano und den appuntato Varcone, ins unwegsame Hinterland. Die beiden sind dort auf sich selbst gestellt. Wenn nötig, kann man kurze Nachrichten per »fonogramma« senden, ansonsten wird Maisano zum Rapport nach Bari einbestellt, aber Hilfe erhalten sie keine. Dass beide ohne Vornamen miteinander umgehen, entspricht dem schneidigen Ton des sich etablierenden Faschismus, versinnbildlicht aber auch, wie fremd sie in der Einöde bleiben. Maisano, dem ein Tic des linken Auges die Aufnahme persönlicher Kontakte ohnehin erschwert, muss bei jedem Verhör ausloten, wie er seine Rolle anlegen sollte, um sich Respekt und Vertrauen zu verschaffen und dem jeweiligen, meist verstockten Gegenüber die schlichtesten Informationen zu entlocken. Durch seine Augen und Reflexionen erleben wir einen Großteil der Handlung.
Eine ebenso wichtige Perspektive ist die des Vorarbeiters Gennaro Loiacono, der stets ein offenes Ohr für seine Männer hat und die Stärken und Schwächen eines jeden kennt. Obwohl er für jeden seine Hand ins Feuer legen würde, bemüht er sich wie ein Vater oder großer Bruder, ihnen Ärger zu ersparen und sie auch von den polizeilichen Ermittlungen fernzuhalten. Dennoch kann er, indem er seine Pflicht tut, nicht verhindern, selbst in den Sog des Falles zu geraten.
Selbst im entlegenen Borgodivalle hatte Alessi eine Geliebte, die erdige Hirtin Concia, die in der Nähe des Fundortes seines Leichnams in einer schlichten Hütte haust. Sie unterhält allerdings auch eine Beziehung zu Corrano Giasino, einem »latitante«, der wegen diverser Verbrechen gesucht wird und in den Bergen untergetaucht ist. Um seinen und vielen anderen Spuren nachzugehen, müssen die beiden Carabinieri viele Unannehmlichkeiten hinnehmen, nicht nur der Verschwiegenheit und Skepsis der Einheimischen begegnen, sondern auch nächtliche Kälte, Schlamm, mühsame Wanderungen durch dichte Wälder und andere Unbilden der Natur ertragen. Sie decken eine Fülle problematischer Beziehungen und Lebensläufe auf – und genug Motive, den eitlen Ingenieur aus der Stadt zu beseitigen. Trauen dürfen sie allerdings nichts und niemandem so recht. Zu oft ist das, was sie hören, von Jahrzehnte altem Hass vergiftet, von eigennütziger Taktik verfälscht, nur auf Hörensagen gegründet.
Was diesen Kriminalroman, der sich in aller Ruhe entwickeln darf, zu einem wahren Lesegenuss macht, ist jedoch der elegante, präzise Erzählstil, kultiviert und anspruchsvoll, wie man ihn nicht oft antrifft. Die sprachliche Gestaltung, reich an Bildern und Sinneseindrücken, nimmt uns gleich auf den ersten Seiten gefangen und überrascht uns bis zum Schluss mit immer neuen Glanzlichtern. Die Handlung beginnt mit einem beschwerlichen Marsch. Giorgina, die Witwe des Mordopfers, und Adriano Alessi, dessen rüstiger Vater, sind mit dem Zug aus Bari angereist, um den Toten zu identifizieren, und müssen sich, von Gennaro Loiacono geführt, zu Fuß über mehrere Kilometer bis zum Fundort der Leiche am Fluss bei Borgodivalle quälen. Wie ihnen der Pfad, ihre Kleidung, die Erschöpfung, ihre Trauer, ihre Erinnerungen zusetzen, das schildert Mattencini meisterlich.
Auch jeder im weiteren Verlauf auftretenden Figur verleiht der Autor ein sorgfältiges Profil, so dass die Erzählung vielstimmig wird, die Charaktere lebensecht und individuell agieren und ihr Zusammenspiel glaubhaft wird, von den feinen Herrschaften aus der Stadt über die tüchtigen Arbeiter bis zu den teilweise verschlagenen, misstrauischen oder zwielichtigen Ortsansässigen. Nicht alle sind gut, aber keinem – auch nicht den Tatverdächtigen – versagt Mattencini Respekt und Menschenwürde. Wunderbar gestaltet er das Empfinden der Zeit, die Atmosphäre des Dorfes, der Kneipe, der primitiven Bauernhöfe und der rauen Landschaft, und seine Beschreibungen nehmen in manchen Passagen poetische Qualitäten an. Die Wasser des Creti etwa oder das Ionische Meer, das in der Ferne leuchtet, tragen symbolische Züge.
Die Aufklärung des Mordfalls wird natürlich durch Indizien wie Spurenfunde und Aussagen, die Verdachtsmomente und Motive offenlegen, ermöglicht, ist letztendlich aber Verdienst des brigadiere Maisano und des caposquadra Loiacono. Deren mühselige Gedankenarbeit voller logischer Klippen und moralischer Abwägungen zeichnet Mattencini mit fein differenzierter Innenhandlung nach.
Sowohl der umfangreiche Wortschatz als auch der bisweilen komplexe Satzbau erfordern fortgeschrittene Italienischkenntnisse. Zur Einschätzung und insbesondere als Appetitanreger möge das folgende Zitat dienen:
»In quel mare ignoto sfociava il fiume al quale essi andavano come a un pellegrinaggio. Lì, in quel mare, il Crati portava ogni minuto i segreti raccolti lungo il suo corso, affidandogli ciò che la natura e gli uomini gli consegnavano, che le sue acque rubavano lungo le sponde. Un furto commesso dal fiume per conto del mare, refurtiva destinata a un ricettatore capace e discreto. Un complice, quasi, che attendeva tranquillo quel che gli sarebbe stato portato.«