Zeit des Zorns
Ohnmacht und Perspektivlosigkeit, wohin man schaut. Die farbige Bevölkerung im Süden der USA lebt mittellos in heruntergekommenen Häusern, schlägt sich mit einfachsten, unsicheren Jobs durch, hat in Sommerhitze und Winterkälte kaum andere Freizeitbeschäftigungen als in den Vorstädten herumzuhängen, fernzusehen, Musik zu machen, in Hinterhöfen an Autos herumzubasteln oder sich Gangs mit fragwürdigen Ehrencodices anzuschließen. Wie die Frustration schwelt, Missgunst und Hass auf die weißen Unterdrücker offen zunehmen, bis der emotionale Kessel beinahe überkocht, das spürt der Leser in vielen Szenen dieses Romans, die den trostlosen Alltag der armen Schwarzen illustrieren.
Die Handlung beginnt im Frühjahr 1959 in Washington D.C. Die Farbigen wohnen in ihren eigenen Stadtvierteln, isoliert von den Weißen. Seit 1896 gilt in den USA die Politik der Segregation nach dem scheinheiligen Prinzip »separate but equal«. In allen Bereichen des Lebens sind Weiße und Schwarze gesetzlich streng getrennt – im Bus, im Restaurant, im Kino, in den Schulen. Keinem Bürger beider Seiten käme der Wunsch nach Vermischung in den Sinn. Der Rangunterschied beherrscht den Alltag. »Kaffer, Affe, Nigger, Motherfucker« sind nur einige Beispiele für die demütigenden Verbalattacken, die schnell zu Prügeleien und Schlimmerem eskalieren.
Der Autor stellt uns in wechselnden Szenen und Perspektiven die Personen vor, die ihr Leben unter diesen Gegebenheiten führen müssen, und es wird deutlich, dass alles, was kommen wird, was mit ihnen geschieht, was sie tun werden, in ihren jungen Jahren bereits angelegt ist. Die Sogwirkung des Unabwendbaren (und dennoch für den Leser kaum Vorhersehbaren) macht die Faszination des Romans aus.
Im ersten Teil müht sich die farbige Familie Strange redlich, ihren ärmlichen Alltag zu bestreiten. Vater Darius kocht in einer Imbissbude, Mutter Alethea hat mehrere Putzjobs, u.a. bei dem weißen Polizistenehepaar Olga und Frank Vaughn mit ihrem verzogenen Sohn. Olga ist ein Paradebeispiel für die verbreitete Schizophrenie der Zeit, die aus separate but equal resultiert. Im Kreis ihrer Freundinnen gibt sie sich liberal, argumentiert gegen die Benachteiligung der Farbigen, lädt Alethea gar zum gemeinsamen Lunch, was ihr ein besonders warmes Wohlgefühl verschafft. Hat die Dienstbotin das Haus verlassen, trennt sie freilich deren benutztes Geschirr vom übrigen und spült es sorgfältig mit eigener Hand – »man will ja schließlich nicht, dass von diesen Farbigen etwas auf einen abfärbt«.
Darius und Alethea bemühen sich, ihren beiden Jungen Derek (12) und Dennis (18) eine gute Erziehung mitzugeben. Man isst gemeinsam, spricht über schulische Leistungen und Zukunftspläne. »Arbeit lohnt sich«, glaubt Darius und sieht es gar nicht gern, wenn die Söhne mit nichtsnutzigen weißen »Taugenichtsen« herumhängen.
Einer von denen ist Buzz Stewart (18), der mit seiner Körperkraft protzt und keinerlei weitere Qualitäten vorzuweisen hat. Er würde ganz gerne in einer Autowerkstatt arbeiten, aber eine solide Mechanikerausbildung zu durchlaufen ist ihm denn doch zu viel Aufwand. Also jobbt er ein bisschen an einer Tankstelle, bastelt in der elterlichen Garage an seinem alten Ford herum und zieht mit seinen Gefährten ab und zu einen Überfall durch.
Überlegen fühlen sich Buzz und seine Kumpel, wenn sie Derek anmachen. »Zeig, dass du Eier in der Hose hast«, provozieren sie ihn, und tatsächlich beweist er ihnen seinen Mut, indem er in einem Kaufhaus etwas klaut. Doch dies ist Dereks »Glückstag«, wie er später erzählen wird. Zwar erwischt ihn der Ladendetektiv, aber er erkennt den ehrlichen Charakter des Jungen, redet ihm ins Gewissen und lässt ihn laufen. Neun Jahre später – 1968 – ist Derek Streifenpolizist.
Weniger Glück hat der ältere der beiden Strange-Brüder. Sowohl sein Vater als auch sein Bruder beobachten voller Sorge, dass Dennis sich mit den falschen Freunden umgibt, sich nie um einen Job bemüht und Darius' Appelle an sich abprallen lässt. Das Empfinden der grundsätzlichen Ungerechtigkeit seiner Existenz als Farbiger lähmt ihn und ist gleichzeitig sein Alibi im ständigen Streit mit dem Vater. Dem geht Dennis aus dem Weg, raucht lieber einen Joint, vertickert Drogen und zieht Abends mit seinen kriminellen Kumpanen durchs Viertel. Deren fortschreitende Verrohung lässt Dennis nicht unbeeinflusst.
Im zweiten Teil prallen die Gegensätze aufeinander, und Vorurteile, Übermut, Hemmungslosigkeit und Brutalität eskalieren. Jetzt will Dennis aussteigen, doch seine Chance ist längst verflogen, und er muss mit seinem Leben bezahlen. Buzz und seine Konsorten manövrieren sich durch ihre eigenen Skrupellosigkeiten und Dummdreistigkeiten in auswegloses Chaos und enden als Mörder. Umfang und Schwere der Verbrechen, die Schwarz und Weiß begehen, hält der Autor übrigens in der Waage.
Während die Krimihandlung um die Aufklärung der Verbrechen voranschreitet, erschüttert am 4. April 1968 der Mord an Martin Luther King die USA und die Welt. Die Tat eines Rassisten in Memphis löst einen Flächenbrand ungezügelter Wut und des Hasses aus, der das ganze Land erfasst. Als der Mob in Washington D.C. tobt, plündert und brandschatzt, ist Derek Strange als einer der wenigen farbigen Polizisten mittendrin. Eigentlich will er den Mörder seines Bruders finden, nun soll er mäßigend auf seine eigenen Leute im Ausnahmezustand einwirken. Den Randalierern sind die Argumente und Strategien der Bürgerrechtler, ob versöhnlich oder revolutionär, fern. Sie lassen ihren Aggressionen freien Lauf und nutzen die Gelegenheit, sich zu nehmen, was ihnen vermeintlich zusteht, die Weißen genommen haben. Erst das Militär wird die kriegsähnlichen Zustände niederschlagen können.
George Pelecanos' Roman muss man erst zu lesen lernen. Es braucht eine gewisse Anlaufzeit, bis man sich eingefunden hat. Das kommt daher, dass der Autor zu viel versucht. Im Vordergrund will er einen spannenden Krimi erzählen. Gleichzeitig bereitet er die Rassenkonflikte aus Sicht der Schwarzen und der Weißen auf, indem er die Schicksale von Individuen und Familien in diese zeitgeschichtliche Entwicklung einbettet. Drittens liegt ihm offenkundig sehr viel daran, das Zeitkolorit der Sechzigerjahre durch Detailreichtum zum Leben zu erwecken. Leider schießt er in seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit weit übers Ziel hinaus. Die endlosen Ansammlungen von Markennamen, Autotypen, Musiktiteln, Popmusikgrößen, Fernsehshows, Foot- und Baseball-Stars, modischer Garderobe, Kinohits und Werbespots geraten zum Selbstzweck. Was anfangs durch Wiedererkennungseffekte amüsieren mag, ermüdet den Leser schnell und bremst das vielversprechende Handlungsgeschehen aus.
Kaum weniger präzise, aber sinnvoller sind die messerscharfen Beobachtungen der im Schwarz-Weiß-Denken gefangenen amerikanischen Bürger. Jede seiner Figuren hat der Autor bis ins Feinste ausgearbeitet, seinen Charakterisierungen fehlt kein Detail, so hat man den Eindruck.
In den USA ist George Pelecanos' Kriminalroman auf starkem sozialpolitischen Fundament bereits 2004 herausgekommen. Dass Gottfried Röckeleins deutsche Übersetzung von »Hard Revolution« bei Ars Vivendi erst jetzt erscheint, tut seiner Relevanz keinen Abbruch. Die Thematik des Rassismus ist ja keine spezifische der Sechzigerjahre. Offener Hass und unverhüllte Ausgrenzung unliebsamer Menschengruppen sind nicht nur im Amerika des neuen Präsidenten Trump, sondern auch bei uns in Europa erschreckend salonfähig geworden.