Krieg mitten in Europa
"Großbritanniens Gomorrha" - so kommentiert The Independent die unfassbaren kriminellen Zustände in Manchester, London und Glasgow, die Autor Gavin Knight in den drei kurzen Geschichten seines Buches "The Hood" beschreibt. Nach intensiver Recherchearbeit, die ihn mit engagierten Polizisten, Sozialarbeitern, Chirurgen, Gangmitgliedern, Drogenabhängigen und anderen Insidern zusammenbrachte, führt er uns ein schockierendes, desillusionierendes Bild vor Augen. Die stories sind wahr und repräsentativ, die Aufbereitung stellt die menschliche Seite hinter einem sozialen Problem in den Mittelpunkt. Sein Schreibstil ist - dem Thema angemessen - der einer Reportage; er wählt durchgängig das Präsens, kurze Aussagessätze, atmosphärische Schilderungen.
Egal, welchen Fokus der Autor wählt, überall trifft er Kinder, die schon mit acht Jahren ihrer Kindheit beraubt sind, Brutalität in ihren Familien erleben, sich zunächst wehren, bevor sie die Gewalt selber weitergeben. Mit Messern oder Macheten bewaffnet, stürzen sie sich in die aussichtslose Aufgabe, die vorgeblichen Beschützer der Familie, ihre gewalttätigen Väter, zu besiegen. Mit gleicher Härte wollen sie sich in ihrem hood (wohl von neighbourhood, Nachbarschaft) gegen andere Kids behaupten. Diese Kämpfe werden eiskalt und unbarmherzig ausgefochten - man sticht den Gegner bewusst ab, springt auf seinen Kopf, entstellt sein Gesicht. So gewinnt man Ansehen, erhält Rückendeckung in der Gang.
Solchen Kindern ist völlig fremd, was wir als normale Lebensbedingungen ansehen: eine Familie, feste Unterkunft und Ernährung, regelmäßige Schulbesuche, ein ehrlicher Freundeskreis. Von den Youngers (die älter als zehn Jahre sind) und den Olders (über 20) erhalten sie schnell eine Ausbildung zu Kleindealern und werden bald abhängig - finanziell durch Schulden bei ihren Lieferanten und physisch-psychisch durch die Drogen. Damit sind sie gefangen in einem Teufelskreis aus zunehmender Gewalt, Kriminalität, Absturz, Chancen- und Hoffnungslosigkeit.
Dass man mit zehn Jahren schon ein von allen gefürchteter "General" sein kann, schildert der Autor in seiner zweiten Geschichte, "London". Viele Migranten ethnischer Minderheiten leben mit noch nicht geklärten Asylanträgen in Londons Outbacks wie z.B. Southall. Unter ihnen ist auch Troll. Als Achtjähriger war er in seiner Heimat Kindersoldat, kämpfte und tötete mit Maschinengewehr für die Somalier. Dann flüchtete er mit seiner Mutter nach London. Hier kann er sich in der Schule nicht einfügen, wird bald verwiesen, weil er als gewalttätiger Unruhestifter nicht mehr toliert werden kann. Seine Mutter belügt er, haut von Zuhause ab. Sein Weg ist vorbestimmt. Er kennt die Methoden, wie man sich andere gefügig macht, er rekrutiert Kids und mischt mit ihnen zusammen den Drogenhandel auf, wo er eine dominante Rolle erkämpft. Die Polizei hat jemanden auf ihn angesetzt, doch bisher ist er noch auf freiem Fuß.
In Glasgow agiert eine motivierte Polizistin, Karyn McCluskey. Sie ist überzeugt, dass die Statistik, die für ihre Stadt schon jetzt die europaweit höchste Mordrate ausweist, keinen realistischen Aussagewert hat. Denn die meisten Verbrechen werden aus Angst gar nicht erst angezeigt. Wo 170 bekannte Gangs mit mehr als 3000 Mitgliedern im Alter zwischen 11 und 23 Jahren ihr Unwesen treiben, muss etwas geschehen. So hat sich McCluskey mit dem Projekt eines in Boston tätigen Kollegen beschäftigt, welches binnen eines Zeitraums von drei Jahren die Mordrate um 30% senken konnte. In Face-to-face Call-ins wurden inhaftierte jugendliche Gangmitglieder betroffenen Müttern, Polizisten, Geistlichen, Exhäftlingen gegenübergestellt und mit konkreten Fragen konfrontiert, die ihnen die Zweifelhaftigkeit ihrer "Werte" vor Augen führen und gleichzeitig das Interesse und die Angebote der Gesellschaft signalisieren. Dieses Konzept, das mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein ist, will McCluskey nun auf Glasgow übertragen. Doch das ist nicht einfach, denn die Kollegen sind eher skeptisch; in Schottland sei schließlich alles anders ...
Niemand, der in "The Hood" ("Hood Rat" , übersetzt von Jürgen Bürger) mit Bewusstsein gelesen hat, wie in Europas Metropolen ein aussichtsloser Krieg unter den Ärmsten aus sozial benachteiligten Schichten tobt, kann mehr ruhig schlafen. Hoffnung macht das Vertrauen auf einige wenige, die nie aufgeben werden: Polizisten, Ärzte, überzeugte Ehrenamtliche und andere leisten mühevolle, oft schmutzige Arbeit für unsere gesamte Gesellschaft; ihr Lohn ist ein Toter weniger, ein geretteter Junkie, ein Kind, das sie der Schule zurückgeben können - oder nur ein vertrauensvolles Lächeln.