Erwachsenwerden mit George W. Bush
Was ist der Sinn des Lebens? Was ist Wahrheit? Keine geringeren Fragen als diese sind es, mit denen sich die beiden befreundeten Autoren Gavin Ford Kovite und Christopher Gerald Robinson gleich in ihrem Debütroman auf über sechshundert Seiten auseinandersetzen. Sie lassen dazu zwei gleichaltrige junge Protagonisten von der gleichen Basis starten, trennen sie dann abrupt und schicken sie auf Wege, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber sie bleiben in Verbindung, tauschen ihre Erlebnisse und Gedanken aus. Der Leser folgt den Entwicklungen gebannt – weil einerseits die Geschehnisse einfach beeindruckend sind, andererseits die Autoren einen Mix an Stilen, Textsorten und Perspektiven anrichten, der so unterhaltsam wie informativ wirkt.
Halifax Corderoy und Mickey Montauk genießen 2004 ihr sorgloses Collegeleben in Seattle, das ihnen eine ernste Beschäftigung mit den Härten der Realität dieser Welt erspart. Alles ist cool und hip, und wer die cleversten ironischen Sprüche drauf hat, darf sich der Bewunderung aller sicher sein. Das Milieu ist homogen: um die zwanzig, gutbürgerlich, gut abgesichert, linksliberal, gegen Präsident George W. Bush. Die wein- und drogenhaltigen Partys in Halifax' und Mickeys heruntergekommener WG, etwa zum Unabhängigkeitstag, gleichen eher Karnevalsveranstaltungen, sind aber höchst angesagt, da die beiden sie als künstlerisch-philosophische Events verbrämen. Sie nennen sich selbst hochtrabend »Enzyklopädisten«, ihre Bude das »Enzyklopädium«, und aus einer Laune richten sie sogar einen Eintrag »Die Enzyklopädisten« auf der noch jungen und unkontrolliert wachsenden Wikipedia-Seite ein. Dort veröffentlichen sie die Erkenntnisse aus den teilweise ziemlich vernebelten Diskussionen im Kreis der Gleichgesinnten. Den Anfang macht die skeptizistische Aussage »Die Wissenschaft ist sich im Allgemeinen darüber einig, dass in einer Enzyklopädie die Wahrheit steht, sofern eine solche überhaupt existiert, was allerdings nicht der Fall ist«.
Die jungen Leute müssen sich also selbst auf die Suche machen, um ihre eigenen Wahrheiten und Positionen in der Gesellschaft zu finden. »Irgendetwas muss man mit seinem Leben ja anfangen«, formulieren sie als »Beweggründe der Enzyklopädisten« auf ihrer Wikipedia-Seite. Die fungiert dabei als eine Art Zusammenfassung des jeweiligen Erkenntnisstandes; etwa ein Dutzend Mal wird die jeweils aktuelle Version im Roman wie ein Screenshot abgedruckt.
Doch schlagartig ist Schluss mit dem leichten, unbeschwerten Leben, als Mickey Montauk zum Militär einberufen wird. Er stellt sich der Aufgabe, nimmt die Pflicht auf sich und wird in George W. Bushs Irak-Feldzug ein Platoon führen. Hal wird indes auf der luftigen, aber geschützten Wohlstandsseite bleiben und allein statt zusammen mit dem Freund sein Universitätsstudium in Boston beginnen. Er wählt die Literatur, ein brotloses, mit der Realität nicht so unmittelbar wie Mickeys Tätigkeit verknüpftes Fach, ist aber dessen intellektuellen Anforderungen kaum gewachsen.
Alternierend erzählen die Autoren, wie die beiden Charaktere in ihren konträren Welten an der Realität zu scheitern drohen. In beiden genügt es nicht mehr, wie gewohnt leichtfüßig dahinzutänzeln und spöttische Distanz zu allem zu wahren, was unangenehm ernst werden könnte. Besonders drastisch trifft es Mickey, als er die Verantwortung für einen Checkpoint in Bagdad und damit für die Sicherheit eines Innenstadtbereiches (»Grüne Zone«) übernimmt. Wie da Vorschriften, Pragmatik, Emotionen, Gewalt, Bürokratie und gesunder Menschenverstand aufeinanderprallen, schildern die Autoren in vielen Einzelszenen, die die Absurditäten und Grausamkeiten der amerikanischen Okkupation einer fremden Kultur fern der Heimat illustrieren. Diese Passagen entfalten eine ungeheuer intensive Anschaulichkeit, beruhen sie doch auf Erfahrungen, die Gavin Ford Kovite selbst sammelte, als er 2004/2005 in Bagdad ein Infanterie-Platoon kommandierte.
Mickey Montauk muss sich nicht nur Autorität bei seinen oft einfach gestrickten Soldaten verschaffen. Auch bei den Einheimischen begegnet ihm mehr Ablehnung als Zustimmung. Durch korrekte Pflichterfüllung und Einsatz für seine Schutzbefohlenen erarbeitet er sich Anerkennung. Doch vor allem die unsichere Realität des Alltags macht ihm schwer zu schaffen. Welche Bedrohung ist ernst zu nehmen, welche der ständigen Geheimdienst-Meldungen über vorgebliche Attentate sind womöglich eher politisch oder propagandistisch motiviert? Obwohl einige Kameraden Montauks bei Einsätzen im Gewirr von Bagdads Straßen, bei Selbstmordattentaten und Nagelbombenangriffen sehr konkret und blutig ihr Leben verlieren, bleibt ihm nicht verborgen, dass dieser Krieg auch ein Kampf um die Deutungshoheit über die Realität ist, der mit medialen Mitteln – Fotos, Videos, nächtlichen Radarsequenzen – geführt wird.
Derweil versinkt Halifax Corderoy, der anmaßende, coole Hipster, unter lauter intellektuellen Eliteschülern bereits in der ersten Seminarstunde seines Literaturkurses in einer existentiellen Krise. Nachdem er sich in der Runde vermeintlich witzig vorgestellt hat, verweist ihn der Professor mit einem knappen Einführungsvortrag – de facto einem Fachbegriff-Bombardement – auf den ihm zustehenden Platz am Katzentisch. Hal dämmert, dass er hier nur seine Zeit verschwendet, ohne etwas hervorzubringen, das die Welt bewegen könnte. Als es an »Ulysses« geht, schmeißt er das Studium, treibt orientierungslos dahin, schlägt sich, da ihm das Geld ausgeht, mit Blut- und Samenspenden und als medizinisches Versuchskaninchen durch, denkt gar an Selbstmord.
Durch ihre »Enzyklopädisten«-Seite auf Wikipedia bleiben Montauk und Corderoy in Kontakt. Was ursprünglich nur als Spielwiese für spleenige Geistesblitze gedacht war, nimmt jetzt die bitteren Erkenntnisse auf, die die beiden in den wenigen Monaten ihres veränderten Lebens gewonnen haben. Ihre Jugendfreundschaft wird angespannt, denn Hal fällt es schwer, Mickeys Bereitschaft, den amerikanischen Feldzug mitzutragen, zu akzeptieren. Sein Resümee auf der »Enzyklopädisten«-Seite: »Der Krieg jedenfalls ist wirklich, ist wahr, auch wenn seine Prämissen vielleicht falsch sind. Die Universität ist falsch, obgleich ihre Prämissen vielleicht wahr sind.«
Im Übrigen steht schon seit Längerem eine extravagante junge Frau zwischen den beiden Freunden. Mani Saheli gibt sich sexy-nuttig als Künstlerin, lebt von Luft und Liebe und tingelt durch die Männer-Welt. Hal und Mickey verlieben sich beide in sie. Doch während sich Hal einer festen Bindung entzieht und spurlos nach Boston entwischt, folgt Mickey einem Gefühl der Verantwortung und verschafft der mittellosen Frau zu Lasten der US Army eine finanzielle Grundsicherung, indem er sie kurz vor seinem Kriegseinsatz heiratet (»Last-Minute-Bräute«).
Der Ton, in dem Kovite und Robinson vom »War of the Encyclopaedists« erzählen (übersetzt von Gerhard Falkner und Nora Matocza), ist manchmal witzig, manchmal ironisch, manchmal grausam und manchmal unendlich traurig. Es ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, das mit viel Desillusionierung einhergeht und Bilder produziert, die im Kopf bleiben (»Sahnehäubchen auf dem Kuchen des Bombenszenarios«, wie etwa »ein kleiner Babyschuh, in dem noch ein Babyfuß steckte«; zahlreiche Beispiele für täglich »hundert entsetzliche Möglichkeiten« zu töten und zu sterben).
Das Dreieck zwischen blutigem Kriegsterror im Irak, dem gedankenlosen Freizeitgebaren der Soldaten in ihren abgeschotteten Camps und dem eigenartig entrückten Dasein der jungen Elite im friedlich-luxuriösen Zuhause steht nicht nur unter kaum erträglicher Spannung, sondern bietet den Autoren auch Anlass für manch drastische Satireszene (»Probeliegen als Kriegstoter« bei einer Anti-Kriegs-Demo).
Die eingangs gestellten Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Wahrheit erweisen sich – wen wundert's? – im Zuge des denkwürdigen Irak-Krieges als komplexer denn je. Wie gefährlich war Saddam Hussein jetzt auf einmal, nachdem ihn die Amerikaner doch jahrelang unterstützt hatten? Wie sollte man das Böse al-Qaidas vom Rest der islamischen Welt absondern? Welche andere ›Wahrheit‹ konnte die Welt den hochoffiziell gefälschten ›Beweisen‹ von irakischen Massenvernichtungswaffen entgegensetzen? Aber ach, welch bahnbrechende Neuerungen haben uns doch die Jahre 2016 und das junge 2017 beschert: Von ›Fake News‹ und ›Alternative Facts‹ konnte man 2004 noch nicht einmal träumen – heute gehören sie zum politischen Alltag.