Stunde der Flut
von Garry Disher
Zwei Verbrechen in einer australischen Kleinstadt bleiben lange ungelöst, bis der Ursprung allen Übels ausgerechnet in einer Polizeieinheit ans Licht tritt.
Ordnungshüter mit Sonderrechten
Das Konzept von Garry Dishers aktuellem Kriminalroman erscheint einfach und nicht sehr originell. Die Handlung trägt sich auf zwei Zeitebenen zu. Da sind zunächst – um die Jahrtausendwende – zwei Verbrechen, die aufgeklärt werden müssen. Die Aufgabe obliegt einem noch jungen Ermittler, der jedoch scheitert. Zumal seine Familie involviert ist, lässt ihn der eine der beiden Fälle nicht ruhen. Nach zwanzig wechselhaften Jahren wird er erneut damit konfrontiert und muss sich gleichzeitig bemühen, sein Leben und das seiner verkorksten Familie aufzuarbeiten. Die verwickelten kriminalistischen und familiären Zusammenhänge erfordern die Aufmerksamkeit der Leser bis zu den letzten Seiten – wer dagegen Action- und Gewaltszenen erwartet, wird enttäuscht sein.
Unser Protagonist heißt Charlie Deravin und ist in der ersten Zeitebene ein angehender Constable in Melrose Beach (Australien), wo er mit dem älteren Bruder Liam und den Eltern aufgewachsen ist. Sein Vater, Rhys Deravin, ist Detective Sergeant und der Platzhirsch der kleinen Polizeieinheit am Ort, denn er hat sich einen Namen als Verbrechensjäger gemacht. In seinem Revier geht es robust zu. Die Ordnungshüter, alles gute Kumpels, feiern gerne Feste, schlagen heftig über die Stränge und nehmen sich allerlei Freiheiten heraus, die im Gesetz nicht vorgesehen sind. So spricht man von »Machokultur« und Korruption, und bald verlassen die ersten Frauen ihre raubeinigen Männer.
Auch Charlies Eltern leben in Scheidung. Vater Rhys bewohnt mit seiner neuen Lebensgefährtin weiterhin das bescheidene Heim der Familie, das wie all die benachbarten Häuser auf der Peninsula aus den Dreißigerjahren stammt. Mutter Rose (eine Lehrerin) ist ausgezogen und zur Miete in einem schäbigen Haus im Außenbezirk untergekommen. Ihre finanzielle Situation ist so angespannt, dass sie einen Untermieter bei sich aufgenommen hat. Würde das Elternhaus im Zuge der Scheidung verkauft, hätte sie etwas mehr Geld zur Verfügung und könnte sich eine hübschere Unterkunft leisten.
Als die beiden Brüder von ihrer Mutter erfahren, was für ein Kerl sich da bei ihr eingenistet hat, sind sie entsetzt. Shane Lambert ist nicht nur mit der Miete im Rückstand, sondern macht sich bei Rose auch unverschämt breit. Wenn er nach seiner Arbeit im Holzhandel nach Hause kommt, belästigt er sie und zwingt sie mit abstoßenden Mitteln, mit ihm zweifelhafte Filme anzuschauen. Umgehend sorgen Charlie und Liam dafür, dass der Mann gleich die folgende Nacht in einem Motel verbringt.
Ein paar Tage später wird Charlie mit weiteren Kollegen zu einem Jugendlager einbestellt, wo ein Neunjähriger seit dem morgendlichen Spielen am Strand nicht mehr gesehen worden war. Als einzige Spur entdeckte ein Suchtrupp seinen Rucksack mit Portemonnaie und der Kleidung, die er am Körper getragen hatte. Der Fundort war am Strand, unweit des Hauses von Charlies Mutter.
Und zwei weitere Neuigkeiten beunruhigen Charlie. Shane Lambert hat »Anzeige erstattet«, und Mutter Rose ist mit ihrem Auto drüben bei Tooradin gegen einen Zaun gefahren. Der Wagen steht dort mit offener Fahrertür, im Zündschloss steckt der Schlüssel, blutverschmiert, auf der Straße liegt der Inhalt der Handtasche, aber von Rose fehlt jede Spur. War sie betrunken oder zu schnell unterwegs, oder ist sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen?
Durch die nun folgenden intensiven Recherchen der Polizei geraten Lambert, Vater Rhys und andere unter Verdacht, doch keine Spur führt zu einem konkreten Ergebnis. Was soll man anderes tun, als den Fall zu den Akten zu legen?
Zwanzig lange Jahre gehen ins Land, und vieles hat sich in Melrose Beach verändert. Das Städtchen scheint aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Zwar sind die Straßen immer noch nicht geteert, doch kündet der lebhafte Verkehr darauf von reger Bautätigkeit.
Charlie ist zum Senior Constable aufgestiegen und eigentlich »der friedliebendste Mensch«. Doch nachdem er seinen Chef einmal so schubste, »dass er über seinen eigenen Schreibtisch fiel«, wird er suspendiert, muss sich einer Therapie unterziehen und interne Disziplinarverfahren erwarten. Die Therapeutin rät ihm, »die Chance« zu ergreifen und Möglichkeiten zu erkunden, wie er mit neu entwickelten Strategien seine Zukunft besser gestalten kann, doch für Charlie sind das nur hohle Worte.
Dabei ist auch sein Privatleben eine Berg-und-Tal-Fahrt. Sein erstes Eheglück ist zerbrochen. Nun hat er eine neue Beziehung und wohnt wieder im elterlichen Haus. Mit dem großen Bruder Liam hat er nur noch sporadisch Kontakt, seit dieser neun Jahre zuvor wegzog, um mit einem Partner zusammenzuleben. Dieser Schritt hat zum Bruch mit Vater Rhys geführt, zumal Liam seinem Vater stets eine gewisse Schuld im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Mutter Rose zugetraut hat. Charlie hat diesen Verdacht gegen den Vater nie geteilt, doch die Hoffnung, Roses Schicksal aufzuklären, hat er nie aufgegeben.
Schließlich lässt ein Zufall den »Cold Case« wieder aktuell werden, und Charlie nimmt »die Jagd« wieder auf.
Garry Disher ist ein hierzulande noch nicht sehr bekannter australischer Autor. Seine Kriminalromane zeichnen sich durch die detailgenau herausgearbeitete Atmophäre der Schauplätze auf seinem Kontinent aus, die auch seine nuanciert charakterisierten Figuren prägt. Bemerkenswert ist außerdem seine typische Erzählweise: Sie wirkt einerseits durchgehend unaufgeregt, ja gemächlich – selbst bei der eigentlichen Aufklärung ganz am Ende des Romans –, wird andererseits von einem literarisch durchaus komplexen Sprachstil getragen. Sorgfältig motiviert und gut nachvollziehbar geschildert sind darüber hinaus die wechselnden Stimmungen des Protagonisten, in den glücklichen Zeiten seiner familiären Beziehungen und seines beruflichen Aufstiegs ebenso wie in den Phasen der Frustration, als sich der Ermittler ins Abseits geschoben findet. Was ihn immer wieder vorantreibt und stützt, ist der so unbefriedigend zurückgelassene Fall seiner eigenen Mutter. Das schwarze Loch des ungelösten Rätsels zieht Charlie immer wieder zu sich, so wie ihn auch die schmutzige Vergangenheit der väterlichen Polizeieinheit schließlich unausweichlich einholt.