Leiser Tod
von Garry Disher
Personal und Geld sind Mangelware im Waterloo-Kommissariat, Melbourne. Aber DI Hal Challis macht aus dem Wenigen das Beste. Provokante Sprayer im Wohlstandsviertel, eine agile Leiche und ein Mörder, ein serieller Bankräuber und die Großmeisterin des Einbruchs – alle müssen sich warm anziehen.
So muss er sein
So sollte ein Kommissar sein: unbestechlich, anständig, gewissenhaft, standfest, moralisch gefestigt. Detective Inspector Hal Challis ist so ein Musterexemplar. Die Pflichterfüllung in seiner Einheit, der Waterloo Crimes Investigation Unit (CIU), geht ihm über alles. Er hat keine Marotten, keine Süchte, lässt sich nicht korrumpieren und tritt seinen Leuten gegenüber nicht als Besserwisser auf. Nur eins bedeutet ihm mehr als sein Dienst: Ellen Destry, in die er sich heftig verliebt hat. Schade nur, dass sie ausgerechnet jetzt für acht Wochen zu einem Erfahrungsaustausch nach Europa fliegen muss.
Garry Dishers neuester Kriminalroman »Leiser Tod« ist eine fein ziselierte literarische Leistung, präzise und detailreich auf allen Ebenen – von der Handlung, die die ganz normale Alltagsarbeit der Polizei darstellt, über einen spannenden und schlüssigen Kriminalplot, die Personenzeichnung der Protagonisten und des Teams, in dem jeder sein privates Päckchen zu tragen hat, bis zur sprachlichen Gestaltung, für deren perfekte Umsetzung im Deutschen der bewährte Fachmann Peter Torberg verantwortlich zeichnet.
Ein Grundmotiv, das den Roman durchzieht, ist die haarsträubende personelle und sachliche Ausstattung der Polizei von Melbourne. Sie bietet Anlässe für teilweise komische Szenen. Denn Challis’ Einheit hat nur einen einzigen Streifenwagen zur Verfügung, sie ist personell massiv unterbesetzt, ihre Computersysteme stammen aus dem letzten Jahrhundert, und damit sind sie eigentlich nur in der Lage, Akten abzuheften, nicht aber, sich mit Verbrechern anzulegen.
Gleichzeitig fordern gerade die besseren Kreise, dass endlich stärker durchgegriffen wird, etwa gegen die noch immer nicht identifizierte Truppe, die ihre Anwesen auf der feinen Mornington-Halbinsel im Südosten der Stadt mit hässlichen Schmierereien und unverschämten Parolen verunstaltet (»Hier wohnt ein Proll mit Geld«). Dank guter Vernetzung weiß man hier aber den Hebel an der richtigen Stelle anzusetzen, nämlich direkt beim örtlichen Abgeordneten. Der gibt den Druck nach unten weiter – Inspector Hal Challis soll sich mal kümmern –, und dem bleibt nur, ihn weiterzureichen an Kollegin Pam Murphy. Die wiederum wimmelt umgehend ab: Challis »geruhe wohl zu scherzen, wenn er diese Leute für Opfer halten würde«; mit solchen Lappalien sollten »die überstrapazierten Polizeikräfte« ihre Zeit nicht verschwenden.
Denn grade jetzt wurde ein Leichenfund gemeldet. Als Pam und ihr Kollege Scobie Sutton an der Lichtung eintreffen, wo der Zeuge die Tote gesehen haben will, ist die allerdings verschwunden. Wenig später taucht sie im Ort auf und erweist sich als lebendige, aber verängstigte junge Frau, die sich, nachdem sie vergewaltigt worden war, durchs Buschland in die Stadt durchgeschlagen hat. Ihr Missetäter, sagt sie, trug Uniform.
Und dann ist da noch der Bankräuber, der durch den Outback heran zieht. Pam berät die Direktoren der örtlichen Banken und bittet sie, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Nicht jeder nimmt ihre Warnungen ernst genug.
Eine weitere VIP der Verbrechensszene ist Grace, die »Einbruchskönigin«. Ihre Meisterschaft verdankt sie einem Ex-Polizisten, der sie als Siebzehnjährige anlernte, vernetzte und verprügelte. Seit zwei Jahren arbeitet sie auf eigene Rechnung, allerdings in ständiger Furcht vor ihrem Mentor, der sie nur allzu gern wieder an die Leine nehmen würde. Wie klug und diszipliniert sie vorgeht, beschreibt der Autor äußerst überzeugend – das sind Seiten, die man mit größtem Interesse verschlingt. Doch leider hat sie ihre Spielsucht nicht so perfekt im Griff wie ihren Job.
In dieser Konfiguration, die bald durch eine wirklich tote Frauenleiche bereichert wird, steht das bejammernswerte Kommissariat der Waterloo Police auf verlorenem Posten. Dass der Chef Kopierpapier, Batterien für Kameras und derlei Arbeitsmaterialien mittlerweile wie selbstverständlich aus dem eigenen Geldbeutel bezahlt und die Mobilität seiner Leute mit seinem alten Schrotthaufen von Privatwagen aufrecht erhält, wurmt ihn schon lange. Auf die provokante Bemerkung eines Journalisten hin platzt dem engagierten Teamleiter der Kragen, und er feuert eine Tirade gegen die Verantwortlichen ab, auf die sich die Medien stürzen. Der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist hoch.
Garry Disher beschreibt die Aktivitäten der nimmermüden kleinen Polizeieinheit auf eindringliche Weise. Bis an ihre Grenzen bemühen sie sich, für Recht und Ordnung zu sorgen. So zielt der Roman nicht auf reißerische Effekte, sondern vor allem auf atmosphärische Dichte. Es entsteht eine Art Zustandsbericht gesellschaftlicher Verhältnisse in Australien, die wenig zu tun haben mit den sonnigen Postkarten-Klischees, die europäische Touristen kultivieren. Kein Detail ist nebensächlich, jedes Wort sitzt perfekt. Die Schauplätze, die Charaktere und ihre Psyche überzeugen. Der Autor bindet den Leser, leitet ihn durch die unterschiedlichsten Szenen und unabhängig voneinander berichteten kleinen und großen Verbrechen, die wie von selbst ineinanderfließen und schließlich durch eine zufällige Begebenheit zu einem gemeinsamen Handlungsstrang gebündelt und konsequent zu Ende geführt werden.
Genießen werden Sie beim Lesen die sprachliche Meisterschaft Garry Dishers – und seines kongenialen Übersetzers. Peter Torberg zaubert aus dem Original (»Whispering Death« 1616952962) deutsche Sätze, die süchtig machen nach mehr: »Die Häuser waren blasse Ziegelbauten aus den Siebzigern, schweigend, enttäuscht, so als schämten sie sich für die Männer, die sie entworfen hatten.« – »Da war eine Frau, die Rosen kurz schnitt … Sie war eine schiere Ansammlung von Widersprüchen. Die Unterarme waren von Dornen zerkratzt … Gold und Edelsteine funkelten an ihren Fingern, Ohrläppchen und um den Hals, dazu ein Gesicht, das man in einer Loge in der Oper erwarten würde.« Und immer aufs Neue erfrischen Torbergs Schätzchen aus seinem umgangssprachlichen Repertoire: »nicht mehr alle Murmeln beisammen«, »Dumpfbacke«, »Firlefanz«, »Spatzenhirn«, »Pfriemelei«.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2018 aufgenommen.