Kaltes Licht
von Garry Disher
Ein neuer, sympathischer Protagonist in der Krimiwelt des australischen Meisterautors gibt sein Debüt, in dem er sich mit vier Fällen auseinandersetzen muss. Selbstlos und tatkräftig leistet der Menschenfreund der Gerechtigkeit Hilfe.
Plattenmann, Blaubart, ein toter Farmer und ein Macho
Sergeant Alan Auhl ist der Neue bei Garry Disher, dem australischen Garanten für qualitätsvolle Kriminalliteratur, die den Leser fasziniert, anregt und unterhält. Erneut serviert der vielfach ausgezeichnete, vielseitige Autor (der früher auch Sach-, Kinder- und Jugendbücher verfasst hat) ein virtuos komponiertes Meisterwerk, das auf Splatter verzichtet und lieber auf Intelligenz und Stil setzt. Es ist bereits das achte seiner Bücher, das der geniale Peter Torberg für den Zürcher Union-Verlag ins Deutsche übersetzt und damit für einen sprachlichen Genuss auch hierzulande aufbereitet hat.
An seinem Arbeitsplatz ist der fünfzigjährige Inspektor Auhl allerdings keineswegs neu. Er war nur ein paar Jahre lang weg gewesen. Zehn Jahre bei der Mordkommission Melbourne, Abteilung für ungelöste Fälle, hatten ihn zermürbt. Viele der Cold Cases gingen ihm nach, er konnte sie nicht einfach wegstecken noch »sich eine harte Schale zulegen«. Um wieder zu sich selbst zu finden, brauchte er fünf Jahre, in denen er reiste, las, sich weiterbildete, wohltätig arbeitete und allerlei private Verwicklungen durchlebte. Damit konnte er sein Herz wieder an den rechten Fleck rücken und an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren.
Einen überschwänglichen Empfang erhält der »runderneuerte Auhl« dort nicht. Die jüngeren Kollegen, die um ihre Beförderungschancen fürchten, lästern über den »alten Sack« und tauschen unüberhörbar »Rollatorwitze« aus. Auhl, in der Tat »langsam, alt« und »nicht auf dem neuesten Stand des technischen und investigativen Fortschritts«, beklagt seinerseits Faulheit, Unerfahrenheit und taktische Ungeschicklichkeit der Jungspunde und tritt ihnen gehörig auf die Füße. Mit der Zeit und solider Arbeit an diversen Fällen lernen aber auch die Mitarbeiter ihren sympathischen Kollegen langsam zu schätzen.
Eine Giftnatter führt uns in der bedrohlichen Eingangsszene hin zum ersten Cold Case, den das Team bearbeiten muss. Auf der Terrasse eines Familienheims mit Kleinkind schlängelt sich das Tier, ehe es eingefangen werden kann, blitzschnell unter die Betonplatten, wo man dann statt einer Schlangengrube ein menschliches Skelett samt verrotteter Kleidung und gefälschter Rolex-Uhr entdeckt. Wer ist der »Plattenmann«, wie ihn die Medien nennen, und wer sein Mörder? Besonnen und stetig folgt Auhl, der erfahrene alte Hase, den verblassten Spuren und pirscht sich auf verwickelten Pfaden über eine krude, Frauen verachtende Religionsgemeinschaft mit strengen Regeln vor bis zur Lösung.
Ein zweiter ungelöster Fall, vom Autor geschickt in die diversen Handlungsebenen eingewoben, verfolgt Alan Auhl bis in die Gegenwart. 2011 wurde ein allein lebender Witwer mit einer Schädelfraktur tot auf seiner Farm gefunden, ein Täter aber nie ermittelt. In unregelmäßigen Abständen erkundigen sich seine beiden Töchter, ob es vielleicht neue Erkenntnisse gebe.
Ein dritter Cold Case gewinnt unerwartete Aktualität, als der damalige Tatverdächtige jetzt um Polizeischutz bittet. Nachdem seine ersten beiden Gemahlinnen unter mysteriösen Umständen verstarben, behauptet der mögliche »Blaubart«, seine derzeitige Ehefrau (Nummer drei) wolle ihn umbringen.
Neben seinem Beruf hat Alan Auhl ein erfülltes, engagiertes Privatleben, das von seinem mitfühlenden Charakter geprägt ist. Er besitzt ein dreistöckiges, verwinkeltes und ziemlich ungepflegtes Haus (»Chateau Auhl«), in dem mehrere Personen Unterkunft finden. Seine Ehefrau Liz – die Beziehung ist sehr locker geworden – bezieht ihren kleinen Wohntrakt in der Mitte des Hauses nur sporadisch, wenn die alte Anziehungskraft ihre Wirkung tut, und entschwindet dann wieder in ihre andere Welt. Die gemeinsame Tochter Bec, Studentin, wohnt im Obergeschoss, wo sie sich das Bad mit einem Ehepaar aus Sri Lanka teilt. Die übrigen Räume öffnet Auhl vorurteils- und erwartungsfrei für Mitbürger, die am sozialen Tellerrand leben oder in einer Notsituation eine Bleibe suchen, darunter auch ein paar wechselnde Streuner, die gar nicht daran denken, Miete zu zahlen. Selbst seiner Chefin bietet er, als sie in eine Beziehungskrise rutscht, für ein paar Tage einen Rückzugsort in seinem Haus an.
Der warmherzige Hauseigentümer grämt sich wenig, wenn niemand seinen Putzplan einhält oder den zugemüllten Vorgarten aufräumt. Richtig Sorgen macht er sich dagegen um die junge Neve Fanning, die kürzlich mit ihrer zehnjährigen Tochter Pia bei ihm Zuflucht vor dem gewalttätigen Ehemann und Vater gefunden hat. Der will bald sein Sorgerecht einklagen. Auhl bietet der ausgemergelten und verängstigten Frau seinen Beistand an, ahnt aber, dass sie gegen den Macho-Rohling, der sich die besten Anwälte leisten kann, keine Chance hat. Die offensichtliche Ungerechtigkeit – Neve wird nicht nur die Unfähigkeit attestiert, eine gute, fürsorgende Mutter zu sein, sondern ihr droht sogar die Unterbringung in einer Psychiatrie – berührt den Polizisten an seiner empfindlichsten Stelle.
Letztlich entwickelt Garry Disher somit vier parallele Kriminalfälle. Sie halten uns Leser mit Spannung und Nervenkitzel auf Trab und verlangen dem liebenswerten Polizisten mehr ab, als er vertreten sollte. Wir können nur den Atem anhalten, wenn Auhl sich entschließt, eine Grenze zu übertreten …
Wie Garry Disher (Jahrgang 1949) in seinem 2017 veröffentlichten Roman »Under the Cold Bright Lights« alle Haupt- und Neben-Erzählstränge locker in Händen hält, kunstfertig mit vielen kleinen und großen Bällen jongliert, um sie im richtigen Moment effektvoll aufschlagen zu lassen, das ist meisterliche Kriminalliteratur mit Tiefgang, die ihresgleichen sucht.