Hope Hill Drive
von Garry Disher
Tiverton, ein Nest in der menschenleeren Ödnis Südaustraliens, ist keine Idylle. Auch hier schleicht sich das Böse ein, und es sind nicht nur Lappalien, die Polizist Paul Hirschhausen richten muss. Dabei wünscht er sich nichts als ein friedliches Zuhause.
Ordnungshüter und Sozialarbeiter im Outback
Seit einem Jahr ist Paul Hirschhausen Constable in Tiverton, einem Nest im wohl ödesten Flecken Südaustraliens. In diese von Gott vergessene Region hat man ihn strafversetzt, nachdem man ihm Korruption und Drogenschieberei vorgeworfen hatte. Erbarmungslos lastet jetzt, kurz vor Weihnachten, die Hitze auf der endlos weiten Landschaft mit den »ungenutzten Silos [ … ], deren Schatten wie breite Pinselstriche über der Landstraße lagen [ … ], ein Wellblechheuschober hier, ein Stückchen rotes, hinter Zypressen eingeschlossenes Farmdach da. Ansonsten war die Welt bevölkert von Windturbinen [ … ], von Weizenstoppeln, einem winzigen Staubteufel auf einem Hang; vielleicht vom Wind, vielleicht von einem Farmer, der nach seinen Schafen sah«.
Heimisch fühlt sich »Hirsch« hier nicht. »Der Ort hielt ihn auf Armeslänge von sich«, verweigert ihm Anerkennung, das Ankommen, das Zuhause, nach dem er sich sehnt. Verwunderlich, dass er in diesem Jahr den »Santa Claus« spielen, Geschenke an die Dorf- und Farmkinder verteilen und bekanntgeben soll, wer die beste Weihnachtsbeleuchtung installiert hat. Dahinter steckt aber nur der aufdringliche Ruheständler Martin Gwynn, der überall seine Finger im Spiel hat, alles überwacht, alles besser weiß und Hirsch von Herzen zuwider ist. Ein paar entspannte Stunden und ein wenig Licht in sein frustriertes Dasein bringen nur Wendy Street, Lehrerin an der Highschool in Redruth, und Katie, ihre »pfiffige, lustige Tochter«.
Montags und Donnerstags patroulliert Hirsch in seinem Toyota-Dienstwagen mit dröhnenden Lautsprechern durch die leere Gegend rund um Tiverton und schaut bei den wenigen Menschen vorbei, die hier draußen ein Leben ohne Perpektive und Hoffung fristen. Auf den verwahrlosten Farmen sieht er »ein altes, steinernes Plumpsklo und einen Geräteschuppen [ … ], rostige Pflugscharen, vergammeltes Heu und leere Getreidesäcke«. Seine übliche Frage nach dem Befinden löst die immer gleiche Antwort aus: »Den Umständen entsprechend.« Das sagt auch die alleinstehende Jill Kramer, nachdem sie »von ihrer Ice-süchtigen Tochter ausgeraubt und krankenhausreif geschlagen worden war«. So schleicht sich das Böse selbst hier ein und hält Hirsch auf Trab.
Bei Monica Fuller wurden beispielsweise ein paar Gartengeräte aus dem Schuppen geklaut. Ihr Hund hatte angeschlagen und sich von der Kette losgerissen. Aber sie konnte die Polizei nicht rufen, denn die Telefonleitung war durchtrennt. Erst nach Wochen kehrte der Hund halb verhungert und verletzt nach Hause zurück.
Wegen eines vermeintlichen Grasfeuers rückt Feuerwehrmann Bob Muir aus, stellt aber fest, dass Kupferdiebe keine Lust hatten, die Isolierung ihrer Beute mühselig vom Edelmetall zu trennen und sie lieber einfach abfackelten. Die Kriminaltechniker aus der Stadt werden vor Weihnachten nicht mehr kommen, also muss Hirsch ran.
Zu den Sorgenkindern gehört die Flann-Sippe, die quasi einen Dauerauftrag bei Hirsch hat. Familienvater Stu sitzt gerade wegen Raubes ein, seine Söhne eifern ihm tatkräftig nach, und ihre Mutter Brenda »sammelte Strafzettel und Fahrverbote wie andere Frauen Handtaschen«. Soeben wollte sie einen Pub in Tiverton betreten, hatte dabei freilich in ihrem alkoholisierten Zustand nicht bedacht, »vorher aus dem Wagen zu steigen«.
Richtig blutig wird es (und der bislang recht gemächlich dahingleitende Roman nimmt Fahrt auf), als sich jemand ohne ersichtlichen Nutzen an den Zwergponys von Züchterin Nan Washburn austobt. Als erste Anwärter nimmt sich Hirsch die Flann-Sprösslinge vor. Doch obwohl sie schon allerlei auf dem Kerbholz haben, traut er ihnen ein solch bestialisches Gemetzel nicht zu.
Derweil droht dem Constable Ungemach aus unerwarteter Richtung. Jemand schwärzt ihn bei seiner vorgesetzten Dienststelle an, weil er Katie in seinem Dienstwagen von der Schule abgeholt hat. Und seine holprige Zufahrt in aller Herrgottsfrühe mit überschüssigem Teer kostenlos reparieren zu lassen, war wohl auch kein guter Einfall. Weit unangenehmer ist aber ein Smartphone-Video auf YouTube. Hirsch hatte ein dreijähriges Kind aus dem Glutofen eines geschlossenen Autos befreit und die Personalien der eintreffenden Mutter erfragt, woraufhin diese ihn mit einer Waffe bedrohte. Als man die Frau und eines ihrer Kinder bald darauf erschossen vorfindet, stellt sich heraus, dass sie im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms eine neue Identität erhalten und in Tiverton Zuflucht gesucht hatten.
Bereits zum zweiten Mal steht Paul Hirschhausen als Protagonist im Zentrum eines Krimis des australischen Autors Garry Disher, und der erweist sich erneut als scharfer Beobachter und kreativer Schöpfer ungewöhnlicher Charaktere. So unscheinbar das Kaff, so vielfältig die Typen, die dort leben. Da sind Käuze, die Hakenkreuze und Penisse auf ein Denkmal sprayen, Spinner wie Craig Washburn, der die Menschen meidet, in einem Camper in der Einöde haust und mit einem Metalldetektor durch die Gegend zieht, und schlichte Idioten wie Alfred (»Die dreckige Jeans klammerte sich nur mühsam an die hilflose Taille.«), der den Diebstahl seiner illegalen Rauschmittel meldet.
Aber wer wollte schon in so einer trostlosen Gegend leben? Disher schildert sie eindringlich und beklemmend, schafft eine alle Sinne berührende Atmosphäre von glaubwürdiger Authentizität. Zwischen den Zähnen knirscht der Staub, die Stille, unterbrochen von Wind- oder Turbinengeräuschen, kann unerträglich sein. Es ist »eine vom Tod geprägte Landschaft [ … ], aufgeladen, mitschuldig [ … ], hier draußen konnte ein Mord geschehen und unentdeckt bleiben«.
Wer kann, hat die Gegend längst verlassen. Geblieben sind die Kraftlosen, die Arbeitslosen, Burschen, »die kein Gefühl für Rechte und Pflichten« besitzen und kaum nachvollziehen können, welche Last sie anderen auferlegen, Mütter, die an psychischen Störungen leiden, junge Mädchen, die ihre Schule vernachlässigen, stattdessen den Haushalt führen müssen. Hinter verschlossenen Türen spielen sich Alkohol-, Drogen-, Gewaltexzesse und Missbrauch ab.
Wer hier die Ordnung hüten soll, braucht Einfühlungs- und Urteilsvermögen und einen klaren Kompass für Gerechtigkeit und Moral. Hirsch kennt seine Schäflein und all ihre Sorgen. Bei Bagatellen lässt er fünfe gerade sein, belässt es bei einer Entschuldigung, versucht auf diese Weise wieder einzunorden, wer vom Wege abgekommen ist. Doch bei seinen arroganten Vorgesetzten handelt er sich mit so einer pragmatischen Vorgehensweise nur Ärger ein. Die Berufung auf seinen Ermessensspielraum bringt nichts, er muss sich unterordnen.
Dishers Kriminalroman mit dem geradezu zynischen Originaltitel »Peace« gehört für mich zu den besten des Jahres 2020. Vom Anfang bis zum Ende genießt man die ausgefallene, bildreiche Sprache des Autors und seines kongenialen Übersetzers Peter Torberg. Zwischen den Zeilen blitzt zarter Humor. Die Dialoge spiegeln Charakter und Intellekt der Sprecher – manche lethargisch, andere aufgekratzt, manche provokant, andere uninteressiert, manche lakonisch, andere aufdringlich. Bei solcher Stimmigkeit sind keine blutrünstigen Gewaltbeschreibungen vonnöten. Die Spannung ist wie ein Regenbogen, der irgendwo entspringt und dem man folgt, bis er seinen Höhepunkt erreicht. Innerhalb des atmosphärisch dichten Spektrums bewegt sich der überraschend komplexe und wendungsreiche Plot der Klärung eines Doppelmords auf ein unerwartetes Ende zu.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2020 aufgenommen.