Outsider im Outback
Keiner mag Hirsch. Seine Kollegen verachten ihn, seine Frau hat ihn verlassen, sogar seine eigenen Eltern distanzieren sich von ihm. Sein Ruf ist ruiniert.
Korruption, Sexparties und aus der Asservatenkammer entwendetes Kokain – die üblen Machenschaften des Polizeiteams in einem Vorortrevier von Adelaide sind aufgeflogen. Detective Paul Hirschhausen (»Hirsch«) konnte die Untersuchungskommission kein Vergehen nachweisen. Tatsächlich hatte er sich vom Treiben seiner Kollegen immer fern gehalten, denn er will einfach nur anständig seinen Job machen. Aber seine Aussagen waren den Behörden hilfreich genug. Dafür gilt er jetzt in Polizeikreisen als Verräter. Die Vorgesetzten entledigen sich seiner, indem sie ihn ins Nirgendwo verbannen.
Der Nicht-Ort, wo Hirsch, zum Constable degradiert, ganz allein seinen Dienst schieben wird, hat einen Namen, aber sonst nicht viel. Tiverton – »einmal geblinzelt, schon war man durch« – das sind ein paar alte Steinhäuser, ein Gemischtwarenladen, ein Landwirtschaftsmarkt, zwei Kirchen, eine uralte Kanone, ein Kriegerdenkmal, Getreidesilos, Windräder, Minenschächte, Wolle, Weizen, Gras, Eukalyptusbäume, Zypressengestrüpp, Steingeröll, roter Staub. Keine Bank, keine Highschool, keine Apotheke, kein Arzt, kein Anwalt, kein Steuerberater findet sich in dieser trostlosen Gegend im Outback des Bundesstaates South Australia.
Nicht einmal den Anschein ländlicher Idylle hat Hirschs neuer Dienstort zu bieten. Das Sozialmilieu ist verhärtet, trist und hoffnungslos. »Keine Jobs, kein Nachtleben. Hier zog man weg, nicht her.« Wer die ungeschriebenen Spielregeln des Buschlands nicht befolgt, dem werden Steine in den Weg gelegt. Das kennt Hirsch zur Genüge. Er ist vom Regen in die Traufe geraten, und sein mieser Ruf ist ihm längst vorausgeeilt. Was die drei Kollegen im vierzig Kilometer entfernten Nachbarrevier Redruth von ihm halten, lassen sie ihn spüren. Doch wie bisher schon verbiegt er sich nicht, sondern tut mit stoischer Ruhe seine Pflicht. Je besser er als einsamer Kämpfer Land und Leute kennenlernt, desto näher kommt er einem Sumpf von Intrigen. Er tastet sich langsam heran, kann Vertrauen aufbauen und muss doch immer mehr um sein Leben fürchten.
In diese Grundkonstellation bettet der australische Autor Garry Disher eine relativ einsinnige Krimihandlung ein, die keiner wundersamen Überraschungen, keiner rasanten Kehrtwendungen, keiner atemberaubenden Action und schon gleich keiner grausamen Folterszenen bedarf, denn sie überzeugt durch interessante Charaktere und sorgfältige Gestaltung einer bedrückenden, vielschichtigen Atmosphäre in einem (zumindest für uns Europäer) exotischen Ambiente.
Hirschs Karriere im Nirwana nimmt ihren Lauf, als ihn sein Vorgesetzter aus Redruth auffordert, seinen faulen Hintern zu bewegen und zu klären, was es mit den Schüssen auf sich hat, die eine Touristin an der Bitter Wash Road gehört haben will. Noch recht lässig lenkt der Dorfpolizist seinen robusten Dienst-Offroader durch ein flaches Tal, zur Linken teils bestellte Hügel, zur Rechten zerklüftete Felsformationen – »eine Landschaft, die geradezu danach lechzte, das sich etwas bewegte«, »eine drängende Landschaft, die Hirsch Angst machte«.
Bald beschleicht Hirsch ein Gefühl der »unruhigen Dissonanz«. Seit er vor kurzem eine Patrone in seinem Briefkasten entdeckte, ist er vorgewarnt. Man will ihn erledigen, hier, »wo die Welt so lieblos war«. Als plötzlich Schüsse knallen, erfasst ihn Panik: Haben ihn die Kollegen heimtückisch in einen Hinterhalt gelockt, hat sein letztes Stündlein geschlagen?
Noch ist es nicht soweit. Erst hat Hirsch ein Gestrüpp von Beschuldigungen und Mutmaßungen vor sich. Kinder und ihre Mütter berichten ihm von Gewalttaten, er hört von Psychopathen, die Frauen prügeln, vergewaltigen und morden, von Polizisten, die junge Aborigines misshandeln. Je nach Interessenlage setzen die Ordnungshüter selbst Gerüchte in die Welt, während sie andere ignorieren, abbügeln, herunterspielen, verstärken oder aufbauschen.
Tiverton ist ein Wespennest, eine Schlangengrube, zu brisant für einen Einzelkämpfer. Richtig ernst wird es, als eine Sechzehnjährige tot am Straßenrand gefunden wird, augenscheinlich ein Unfall mit Fahrerflucht. Je nachdrücklicher Hirsch ermittelt, desto tiefer dringt er in ein undurchsichtiges Gewirr von Intrigen ein, die Vetternwirtschaft, Korruption, Frauenfeindlichkeit und Rassismus vertuschen und die Aufklärung des Todes des Mädchens verhindern sollen. Ein zweiter Todesfall spitzt Hirschs Situation zu. Die Verstorbene war schon lange depressiv und hat bereits einen früheren Suizidversuch hinter sich. Klar, dass die gestreute Version des Selbstmordes allen einleuchtet. Nur der lästige Störenfried Hirsch hegt Zweifel.
Der australische Autor Garry Disher (1949 geboren) beherrscht sein Handwerk. Nach einigen Sachbüchern hat er seit 1987 neben Kinder- und Jugendbüchern fast zwei Dutzend Romane verfasst, von denen mehr als die Hälfte auch auf Deutsch erschienen sind, davon bereits sechs in der Übersetzung von Peter Torberg beim Schweizer Unionsverlag. Torberg ist ein Spezialist für den trockenen, dichten, bildstarken Stil, den die Autoren moderner Abenteuererzählungen aus dem englischen Sprachraum gern kultivieren, und so ist dem Team mit »Bitter Wash Road« (das Original erschien 2013) ein Krimi gelungen, der ohne Einschränkungen empfohlen werden kann.
Plot und Protagonist überzeugen. Hirsch ist kein testosterongesteuerter Kraftmeier und keine von persönlichen Problemen zerfressene Charakterruine. Dank seiner Geradlinigkeit und Konsequenz gelingt es ihm, das Vertrauen derer zu gewinnen, die noch niemals etwas anderes erleben durften als Missachtung und Unterdrückung. Wenigstens einige kann er beschützen, vor dem Schlimmsten bewahren, ihnen Gerechtigkeit zuteil werden lassen.
Einen anhaltenden Reiz verschafft der Erzählstil des Autors und des Übersetzers. Der Grundton ist markant, knapp, nüchtern, der Satzbau kompakt und unkompliziert: »Die Menschen hier draußen hatten alle ihre Schönheitsfehler. Farmerdreck unter den Fingernägeln, Kratzer von der Gartenarbeit, Schürfwunden vom Schulhof, Falten von zuviel Sonne.« Aber es finden sich auch detailreiche, reihende Szeneriebeschreibungen, die die jeweilige Stimmung spiegeln: »Ameisenhügel, sandige Auswaschungen, an Toren baumelnde Fuchsschwänze, ein paar verrottende Merinoschafkadaver ... verwitterte Zaunpfosten und müde, rostige Drahtschlaufen, die sie miteinander verbanden ... Was er nicht sah, nur spürte, waren aufgelassene Goldgräberfelder, Schächte, ockerfarbene Hände, auf Felswände schabloniert.« – »In den Spalten der Veranda wuchs Unkraut. Hirsch hielt das nicht für ein Zeichen von Nachlässigkeit. Eher so, als ob die Bewohner abgelenkt seien; sie bemerkten die Schäden nicht mehr, oder sie schauten nur kurz hin und meinten: ›Darum kümmere ich mich nächste Woche.‹«
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.