Trophäe
von Gaea Schoeters
Ein ambitionierter amerikanischer Großwildjäger steht vor der Krönung seiner Karriere, dem Abschuss eines seltenen Nashorns. Doch ihn erwartet noch Größeres.
Lizenz zum Töten
John Hunter White heißt der Protagonist dieses umwerfenden Romans aus den Niederlanden, und der Name ist Programm. Sein Vorname ist so allgemein verbreitet, dass er keinem seiner Träger Kontur verleiht – er ist im Grunde ein Jedermann. Über seine Biografie oder sein Wesen erfahren wir so gut wie nichts. »Hunter« aber verkündet eine Passion: das Jagen. Und »White« ist das Etikett, das ihn dem Menschentyp zuordnet, dem heutzutage so viel Böses angelastet wird. Also nicht er als Individuum, aber pauschal sollen ja schon alle seiner Art Mitverantwortung dafür übernehmen, was »der weiße Mann« über die Jahrhunderte so alles verbrochen hat. Interessanterweise gründet dieses Urteil auf der Hautfarbe des Beschuldigten, was bislang als eine der verwerflichsten Formen von »Rassismus« galt, im »antirassistischen« Diskurs aber neuerdings gegenüber Weißen legitimiert ist. Doch ich schweife ab, verzeihen Sie.
Jedenfalls ist John Hunter White, ein Amerikaner, unterwegs dorthin, wo das Jagen für einen wie ihn noch ungetrübtes Abenteuer verspricht: Afrika. In einem nicht näher bezeichneten Naturreservat erwartet ihn der Jagdleiter van Heeren, ein Freund seit zwei Jahrzehnten. Gemeinsam wollen sie Hunters Karriere mit einem unglaublich exklusiven Beutetier krönen. Dessen Abschuss vervollständigt die sagenhafte Serie der »Big Five«, die Südafrika noch heute auf seinen Banknoten verherrlicht. Nach Kaffernbüffel, Elefant, Löwe und Leopard muss nun noch ein Spitzmaulnashorn vor die Flinte. Da dieses Tier nahezu ausgestorben ist und unter Naturschutz steht, musste van Heeren dem erfahrenen Hunter eine Lizenz zum außergewöhnlichen Töten beschaffen, die nur auf verschlungenen Wegen und gegen außergewöhnlich viel Geld erteilt wird. (Mit den Einnahmen daraus finanziert das Land seine Naturreservate und Maßnahmen zum Schutz seltener Tiere.) Zur bleibenden Erinnerung an den denkwürdigen Schuss wird Hunter die Trophäe seiner Frau als Devotionalie darbringen – ein uraltes Sinnbild wahrer Männlichkeit, selbst wenn es am Ende als Bettvorleger dient.
Was bedeutet einem Großwildjäger solchen Kalibers Afrika, was die Jagd? Für Hunter ist sie eine Form des Kräftemessens. Seine Beute muss ein gefährliches und ihm ebenbürtiges Wesen sein. Auge in Auge stehen Mensch und Tier einander gegenüber, das Tier bedroht den Menschen ebenso wie er es im tödlichen Visier hat. Wenn Hunter zielt, abwägt, schließlich schießt und seinen Gegner erledigt hat, ist sein »Endorphinschub« zerplatzt. Während andere gern mit der erlegten Beute posieren, ist deren Tod für Hunter kein Grund zu triumphieren – er ist im Gegenteil eine »bedauerliche, aber unvermeidliche Begleiterscheinung seines Sieges«. Der Kontinent, auf dem dieses Duell zelebriert wird, interessiert Hunter ebensowenig wie die Lebensumstände seiner Bewohner. Afrika ist für ihn »ein großes Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten; […] sein Vergnügungspark, sein Jagdgebiet. Mehr nicht.«
Überdies liegt Hunter die Großwildjagd förmlich im Blut. Schon sein Großvater war mit berühmten anderen Jägern immer mal wieder in Afrika, um das Hobby auszuleben. Als besondere Ehrerbietung für einen phänomenalen Berufsjäger gab er seinem Enkel dessen Namen. Als Lehrmeister auf gemeinsamen Safaritouren, als Erzähler aufregender Abenteuer prägte er seinen Enkel als Vorbild und hinterließ ihm seine schwere alte Doppellaufbüchse, die Hunter jedem modernen Modell vorzieht. Auch der Vater ging auf Jagd, verstarb aber in jungen Jahren nach einem unglücklichen Unfall während einer Bärenjagd.
Schnell nimmt die Jagd Fahrt auf. Einheimische Fährtenleser bringen die Jäger in den Busch, wo man das Tier bald zu Gesicht bekommt. Es ist ein alter Bulle, von seiner Herde ausgestoßen, »genetisch ausrangiert« und für den Bestand seiner gefährdeten Art sogar eine Bedrohung. Kein Grund also für Gewissensbisse, John Hunter White! Leider erwartet ihn eine böse Überraschung. Wilderer kommen ihm zuvor und zermetzeln seine kostbare Trophäe zu einem »wertlosen Fleischberg«. Seine Wut bricht in einem tierischen »Urschrei« aus ihm heraus, er sinkt als Versager in sich zusammen.
Doch van Heeren, der Jagdreisen organisiert und die Illusion eines authentischen Afrikas zu verkaufen weiß, eines freien, unbeschwerten Lebens auf einem wilden, unberührten Kontinent, vermag den bitter Enttäuschten aus seiner depressiven Stimmung wieder ins Licht zu holen. Die Dimensionen seines »verlockenden« Vorschlags – »Schon mal von Big Six gehört?« – schleichen sich ihm (wie auch uns Lesern) erst langsam ins Bewusstsein, zerbröseln dann aber förmlich sein (und unser) stabil geglaubtes Fundament abendländischer Ethik unter den Füßen. Wer oder was könnte Big Five übertrumpfen, wenn nicht die Krone der Schöpfung, das höchstentwickelte Lebewesen, das anerkannt gefährlichste Raubtier der Welt, somit der ultimative, wahrhaft gleichrangige Gegner für einen Großwildjäger? Auch Hunter gerät ins Grübeln, als er beobachtet, wie geschickt und wehrhaft die jungen Einheimischen ihrer Beute nachstellen. Aber steht der Wert einer Big-Six-Trophäe in akzeptabler Relation zu dem eines Büffels oder Leoparden? Wenn das Spitzmaulnashorn unter weltweitem Schutz steht, hat ein farbiger Afrikaner keinen Schutz verdient?
Während Hunter zunächst »vor sich selbst und seinem Verlangen« kopflos wegrennt, haben wir Gelegenheit, uns mit den grenzwertigen Implikationen auseinanderzusetzen, vor die uns Gaea Schoeters’ hammerharter Ausnahmekrimi stellt. Indem Menschen Tiere jagen und Tiere Menschen, indem die Menschen einander bekämpfen wie Raub- und Herdentiere, indem die Handlung immer neue Haken schlägt, immer neue Abgründe eröffnet, geraten moralische Brandmauern ins Wanken, werden wir mit neuen Herausforderungen des Denkens konfrontiert.
Die Autorin entwickelt all dies nicht reißerisch, oberflächlich oder plakativ, wenngleich klischeehafte Muster nicht ausbleiben.
So spielt natürlich die koloniale Geschichte Afrikas eine wichtige Rolle im Plot. Die Ausbeutung der Rohstoffe, der Natur, der Menschen des Kontinents, deren respektlose Vertreibung aus angestammten Siedlungsgebieten, ihre Versklavung und Verschleppung über Ozeane hinweg sowohl durch europäische als auch andere Mächte (einschließlich afrikanischer Stämme) ist gut erforscht und dokumentiert, und einige westliche Staaten arbeiten an Möglichkeiten der Kompensation, soweit so etwas nach tausendfachem Tod und dem Verlust von Rechten, Kultur und Würde überhaupt möglich ist. Im Rahmen der Unabhängigkeitsbewegungen wurden den Afrikanern seit den Fünfzigerjahren eigene Staaten zugestanden, doch gerieten viele nur in neue Abhängigkeiten, von strengen Vorgaben internationaler Geldgeber und Entwicklungshilfeinstitutionen, vom Wohlwollen eigener korrupter Regierungen und Clans. Einflussreiche Ausländer aus Europa, Amerika und Asien waren nie verschwunden und kochten ihre mehr oder minder eigennützigen Süppchen, ob es um Missionierung, Ideologien, Kunstgegenstände, Waffen, Elfenbein, Stellvertreterkriege ging – oder neuerdings um Bodenschätze, die andere unbedingt ausbeuten wollen, um bei sich zu Hause Umwelt und Klima zu retten. Auf diesem globalen Spielfeld haben Afrikaner – schon gar nicht die einfachen Bürger – kaum Mittel und Wege, ihren eigenen Lebensstandard zu sichern, geschweige denn nachhaltig zu verbessern, und es verwundert nicht, dass nicht wenige bereit sind, sich auf fragwürdige Deals einzulassen. In der Fiktion des Romans ist es van Heeren, der so geschickt wie skrupellos Konditionen ausheckt, die allen Seiten das verschaffen, was sie benötigen oder wünschen, und die moderne Kategorien mit uralten Atavismen verknüpfen. Moral spielt dabei keine Rolle.
In der breiten Differenzierung ihrer Argumentation und der höchst dramatischen Zuspitzung ihrer Handlung findet die Autorin immer noch genug Raum für Pinselstriche zarter Ironie. Der schwerreiche Amerikaner, der gerne »Hunter« genannt werden will, ist ein durchaus vielschichtiger Charakter. Zweifellos erscheint er zunächst skrupellos, hat aber einen guten Instinkt fürs Geschäftliche. Er verdient sein Geld, indem er gierigen Investoren »finanzielle Fata Morganas« empfiehlt. Andererseits kauft er schon seit Längerem im großen Stil »unberührte Naturgebiete« auf, um sie dem Markt zu entziehen, lange bevor Superreiche und Supermächte in Zeiten des Klimawandels große Landflächen als wertvolles Zukunftsinvestment für sich entdeckten. Eine Art Seelenverwandtschaft verbindet Hunter mit seiner (namenlos bleibenden) Gemahlin, charakterisiert als Raubtier von anziehender Schönheit, »dessen träge Eleganz innerhalb eines Augenaufschlags in tödliche Effizienz umschlägt«. Sie handelt mit moderner Kunst und Antiquitäten, die Hunter nicht einmal ansatzweise interessieren, außer dass auch deren Wert – ähnlich dem seiner Immobilien – »ganz und gar von der Glaubwürdigkeit des Anbieters abhängt, von der wirklichen oder erfundenen Seltenheit«.
Gaea Schoeters (geboren 1976) ist mit »Trofee« (so der Originaltitel) ein großer Wurf gelungen, der zu Recht international Aufsehen erregt und viele Preise eingeheimst hat. Mit ihrem packenden Erzählstil evoziert sie Sinneseindrücke von großer Intensität, so dass wir den Rausch einer afrikanischen Großwildjagd mit allen Einblicken, Geräuschen, Gerüchen und Gefahren sinnlich miterleben, selbst wenn wir bisher keinerlei Bezug zu diesem Thema hatten. Als Folge der Erzählperspektive werden die Vorgänge zwar mit einem gewissen Verständnis für traditionell westliche Sichtweisen präsentiert, doch verwickelt uns die fesselnde Handlung darüber hinaus unwiderstehlich in einen Komplex ethischer, kultureller Dilemmata, aus denen es keinen einfachen Ausweg geben kann. In der großartigen Übersetzung von Lisa Mensing entführt uns dieses Buch mitten hinein in ein weiteres »Herz der Finsternis« in einem Afrika, wo alles und nichts möglich scheint.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2024 aufgenommen.