An der Seite der Hinterbliebenen
Dass ein Angehöriger durch eine Gewalttat ums Leben kommt, gehört zu den schlimmsten aller denkbaren Schicksalsschläge. Der Mörder hat nicht nur das Leben seines Opfers ausgelöscht, sondern damit oftmals auch die psychische Existenz der Hinterbliebenen beendet, insbesondere wenn er ihnen ihr Kind geraubt hat. Nie wieder können sie unbeschwert sein, nie wieder Freude empfinden, der Verlust wird für immer ihre Erinnerungen beherrschen, ihr Denken und ihr Handeln bestimmen. Der Täter hat ihr Glück ermordet.
Während die meisten Kriminalromane detailreich schildern, wie der Verbrecher seine Tat plant und durchführt, was seine Beweggründe sind und wie ihm die Helden der Gerechtigkeit schließlich auf die Spur kommen, tauchen die Befindlichkeiten der Hinterbliebenen (sofern sie nicht selbst in den Kreis der Verdächtigen geraten) üblicherweise nur am Rande auf. Zwei Polizisten mit ernster Miene klingeln an ihrer Haustür, die Bewohner öffnen und ahnen gleich, was sie erwartet. Fade-out. So die Standardszene, wie sie der »Tatort« visualisiert.
Der mit vielen Preisen ausgezeichnete Krimiautor Friedrich Ani hat jetzt mit »Ermordung des Glücks« die ansonsten mit sich alleingelassenen Hinterbliebenen in den Mittelpunkt eines Romans gerückt. Für diese schwierige Aufgabe ist er genau der Richtige, hat er doch schon oft bewiesen, wie sensibel er schmerzvolle Situationen und vom Schicksal hart getroffene Menschen literarisch und psychologisch überzeugend darstellen kann. Man denke an die Reihe um den schwermütigen Privatdetektiv Tabor Süden, den die Suche nach verschwundenen Menschen in Sinnkrisen stürzt [› Rezension].
Die Handlung des gefühlsintensiven, melancholischen Romans setzt atmosphärisch passend an einem regnerischen Tag im November ein. Tanja Grabbe wartet zu Hause auf die Rückkehr ihres elfjährigen Sohnes Lennard – doch vergebens. Das Kind ist spurlos verschwunden. Die Mutter erstarrt in sich, nimmt, als wäre sie von einer dichten Nebelwand umgeben, die Außenwelt kaum noch wahr. Alles was zu ihr vordringt – ein Klopfen, Schritte, ein Lichtschein –, lässt sie voller Angst und Schmerz zusammenzucken. Der Autor findet für diese Phase der Ungewissheit gleich zu Anfang poetische, märchenhafte Bilder: »Aus der Spiegelung der Eingangstür schaute ihr eine abblätternde Frau entgegen.« ... »Wenn der erste Schnee fiel, dann nur für sie; sie sammelte die Flocken in ihrer Schürze und brachte sie nach Hause.« ... »Schau, Mama, ich habe dir Sterntaler mitgebracht.«
Nach vierunddreißig langen Tagen der Lähmung und der erzwungenen Untätigkeit wird die Leiche des Jungen im Unterholz an der Isar gefunden. Ein Polizeibeamter steht vor Tanja Grabbes Haustür, um mit der grausamen Nachricht von der Endgültigkeit des Todes ihre Ungewissheit zu beenden.
Der Bote heißt Jakob Franck, war Kriminalkommissar bei der Mordkommission und ist im Ruhestand. Schon während seiner aktiven Dienstzeit hat er es übernommen, Angehörigen traurige Mitteilungen zu überbringen. Dabei lässt er, wenn es sich ergibt, die übliche gebotene Distanz außer Acht. Der am Boden zerstörten Tanja Grabbe bietet er vertrauensvoll seinen christlichen Beistand an: »Möchten Sie, dass wir gemeinsam beten?«
Der Kommissar a.D. weiß aus seiner eigenen Vita, was die Angehörigen der Verbrechensopfer durchleiden müssen. Vor vielen Jahren verschwand seine fünfzehnjährige Schwester und wurde später ermordet aufgefunden. Die Todesnachricht stürzte Jakobs ganze Familie ins Unglück, sie waren nicht einmal mehr dem normalen Alltag gewachsen.
Seitdem fühlte sich Jakob Franck der »Welt der Toten« verbunden, während er sich der der Lebenden immer mehr entfremdete. Diesen Weg mochte Marion, seine verständnisvolle Ehefrau, nicht mit ihm teilen. Aber auch nach der friedlichen Scheidung blieben die beiden in Kontakt, und an dem Fall des kleinen Lennard, der Jakobs schmerzvollste Erinnerungen wachruft, nimmt die gute Zuhörerin einfühlsam Anteil.
Die Vorgänge zur Aufklärung des abscheulichen Verbrechens bleiben im Hintergrund – zugunsten eindringlicher Beschreibungen, wie sich die Leidenden seelisch verändern. Sie erkennen sich nicht mehr im Spiegel, ihre Persönlichkeit löst sich nahezu auf, sie stürzen aus ihrem früheren lichten Leben in ein Schattenreich, gesellen sich zu ihren Toten.
Tanja Grabbe ist für ihre Umwelt kaum noch zu erreichen. Sie schließt sich in Lennards Zimmer ein, kuschelt sich in sein Bett. Was würde es helfen, wenn ihr die Ermittler einen Mörder präsentierten? Doch davon ist die SoKo noch weit entfernt. Ein furchtbares Unwetter hat schon am Abend von Lennards Verschwinden sämtliche Spuren dahingeschwemmt, und keiner der unzähligen Anwohner, die befragt wurden, konnte einen Hinweis geben, von einer noch so nebensächlichen Beobachtung berichten.
Aber Jakob Franck kann nicht ruhen. Er will, er muss Tanja Grabbe Gewissheit verschaffen, und dazu muss er den Täter finden.
Die Art und Weise, in der der Ruheständler Jakob Franck ermittelt, ist gewiss weit entfernt vom harten Alltag realer Mordermittler. Mit Geduld und Einfühlsamkeit vertieft er sich in die Situationen, lässt die Orte des Geschehens in aller Ruhe auf sich wirken. Friedrich Ani schenkt seinem Ermittler die Zeit, beschreibt über Seiten hin das ganzheitliche Verfahren seines Protagonisten, bei dem Feinfühligkeit, Induktion und Intuition zusammenwirken, bis er am Ende den Täter identifiziert hat.Wird die Mutter seines Opfers nun endlich so etwas wie Befreiung und Erlösung finden?