Rezension zu »Ermordung des Glücks« von Friedrich Ani

Ermordung des Glücks

von


Kriminalroman · Suhrkamp · · 317 S. · ISBN 9783518427552
Sprache: de · Herkunft: de

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An der Seite der Hinterbliebenen

Rezension vom 05.11.2017 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dass ein Angehöriger durch eine Gewalttat ums Leben kommt, gehört zu den schlimmsten aller denk­baren Schicksals­schläge. Der Mörder hat nicht nur das Leben seines Opfers ausge­löscht, sondern damit oftmals auch die psychische Existenz der Hinter­bliebe­nen beendet, insbe­sondere wenn er ihnen ihr Kind geraubt hat. Nie wieder können sie unbe­schwert sein, nie wieder Freude emp­finden, der Verlust wird für immer ihre Erinne­rungen beherr­schen, ihr Denken und ihr Handeln bestim­men. Der Täter hat ihr Glück ermordet.

Während die meisten Kriminalromane detailreich schildern, wie der Verbrecher seine Tat plant und durch­führt, was seine Beweg­gründe sind und wie ihm die Helden der Gerech­tigkeit schließ­lich auf die Spur kommen, tauchen die Befind­lich­keiten der Hinter­bliebe­nen (sofern sie nicht selbst in den Kreis der Verdäch­tigen geraten) üblicher­weise nur am Rande auf. Zwei Polizisten mit ernster Miene klingeln an ihrer Haustür, die Bewohner öffnen und ahnen gleich, was sie erwartet. Fade-out. So die Standard­szene, wie sie der »Tatort« visuali­siert.

Der mit vielen Preisen ausgezeichnete Krimiautor Friedrich Ani hat jetzt mit »Ermordung des Glücks« die ansons­ten mit sich allein­gelas­senen Hinter­bliebe­nen in den Mittel­punkt eines Romans gerückt. Für diese schwierige Aufgabe ist er genau der Richtige, hat er doch schon oft bewiesen, wie sensibel er schmerz­volle Situatio­nen und vom Schicksal hart getroffene Menschen litera­risch und psycho­logisch über­zeugend darstel­len kann. Man denke an die Reihe um den schwer­mütigen Privat­detektiv Tabor Süden, den die Suche nach verschwun­denen Menschen in Sinn­krisen stürzt [› Rezension].

Die Handlung des gefühlsintensiven, melancholischen Romans setzt atmosphärisch passend an einem regne­rischen Tag im Novem­ber ein. Tanja Grabbe wartet zu Hause auf die Rück­kehr ihres elf­jährigen Sohnes Lennard – doch vergebens. Das Kind ist spurlos verschwun­den. Die Mutter erstarrt in sich, nimmt, als wäre sie von einer dichten Nebel­wand umgeben, die Außen­welt kaum noch wahr. Alles was zu ihr vordringt – ein Klopfen, Schritte, ein Licht­schein –, lässt sie voller Angst und Schmerz zusammen­zucken. Der Autor findet für diese Phase der Ungewiss­heit gleich zu Anfang poetische, märchen­hafte Bilder: »Aus der Spiege­lung der Eingangs­tür schaute ihr eine ab­blättern­de Frau entgegen.« ... »Wenn der erste Schnee fiel, dann nur für sie; sie sammelte die Flocken in ihrer Schürze und brachte sie nach Hause.« ... »Schau, Mama, ich habe dir Stern­taler mitge­bracht.«

Nach vierunddreißig langen Tagen der Lähmung und der erzwun­genen Untätig­keit wird die Leiche des Jungen im Unterholz an der Isar gefunden. Ein Polizei­beamter steht vor Tanja Grabbes Haustür, um mit der grausamen Nachricht von der End­gültig­keit des Todes ihre Ungewiss­heit zu beenden.

Der Bote heißt Jakob Franck, war Kriminalkommissar bei der Mord­kommis­sion und ist im Ruhe­stand. Schon während seiner aktiven Dienst­zeit hat er es über­nom­men, Angehö­rigen traurige Mittei­lungen zu über­bringen. Dabei lässt er, wenn es sich ergibt, die übliche gebotene Distanz außer Acht. Der am Boden zerstör­ten Tanja Grabbe bietet er vertrauens­voll seinen christ­lichen Beistand an: »Möchten Sie, dass wir gemein­sam beten?«

Der Kommissar a.D. weiß aus seiner eigenen Vita, was die Angehö­rigen der Verbrechens­opfer durch­leiden müssen. Vor vielen Jahren verschwand seine fünf­zehn­jährige Schwester und wurde später ermordet aufge­funden. Die Todes­nach­richt stürzte Jakobs ganze Familie ins Unglück, sie waren nicht einmal mehr dem normalen Alltag gewachsen.

Seitdem fühlte sich Jakob Franck der »Welt der Toten« verbunden, während er sich der der Leben­den immer mehr entfrem­dete. Diesen Weg mochte Marion, seine ver­ständ­nis­volle Ehefrau, nicht mit ihm teilen. Aber auch nach der fried­lichen Scheidung blieben die beiden in Kontakt, und an dem Fall des kleinen Lennard, der Jakobs schmerz­vollste Erinne­rungen wachruft, nimmt die gute Zuhöre­rin einfühl­sam Anteil.

Die Vorgänge zur Aufklärung des abscheulichen Verbrechens bleiben im Hinter­grund – zuguns­ten eindring­licher Beschrei­bungen, wie sich die Leidenden seelisch verändern. Sie erkennen sich nicht mehr im Spiegel, ihre Per­sönlich­keit löst sich nahezu auf, sie stürzen aus ihrem früheren lichten Leben in ein Schatten­reich, gesellen sich zu ihren Toten.

Tanja Grabbe ist für ihre Umwelt kaum noch zu erreichen. Sie schließt sich in Lennards Zimmer ein, kuschelt sich in sein Bett. Was würde es helfen, wenn ihr die Ermitt­ler einen Mörder präsen­tierten? Doch davon ist die SoKo noch weit entfernt. Ein furcht­bares Unwetter hat schon am Abend von Lennards Verschwin­den sämtliche Spuren dahin­ge­schwemmt, und keiner der unzäh­ligen Anwohner, die befragt wurden, konnte einen Hinweis geben, von einer noch so neben­säch­lichen Beob­achtung berichten.

Aber Jakob Franck kann nicht ruhen. Er will, er muss Tanja Grabbe Gewiss­heit verschaf­fen, und dazu muss er den Täter finden.

Die Art und Weise, in der der Ruheständler Jakob Franck ermittelt, ist gewiss weit entfernt vom harten Alltag realer Morder­mittler. Mit Geduld und Einfühl­samkeit vertieft er sich in die Situationen, lässt die Orte des Geschehens in aller Ruhe auf sich wirken. Friedrich Ani schenkt seinem Ermitt­ler die Zeit, beschreibt über Seiten hin das ganz­heit­liche Verfahren seines Protago­nisten, bei dem Fein­fühlig­keit, Induktion und Intuition zusam­menwir­ken, bis er am Ende den Täter iden­tifi­ziert hat.Wird die Mutter seines Opfers nun endlich so etwas wie Befrei­ung und Erlö­sung finden?


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