Ausgebrannt
Frau Emma Fink hat ihre Pflicht getan. Sie ist zur Polizei gegangen und hat gemeldet, dass ihr Chef, der Obst- und Gemüsehändler Justus Greve, 55, ledig, abgängig ist. Aber das Staatsorgan sieht keinen Handlungsbedarf, solange keine konkreten Anhaltspunkte für ein Verbrechen vorliegen. Schließlich ist ein erwachsener Mann ein freier Mann und kann nach Gutdünken seiner Wege gehen, ohne sich von seiner Angestellten verabschieden oder vor den Behörden verantworten zu müssen.
Auch Frau Finks Interesse am Verbleib des Justus Greve hat seine Grenzen. Vielleicht amüsiert er sich ja mit einer seiner vielen Frauenbekanntschaften am Gardasee. Aber nachdem sie seit Wochen nichts von ihm (noch der Polizei) gehört hat, treibt sie doch die Sorge um, und so wendet sie sich an die Privatdetektei von Edith Liebergesell.
Dort soll der erfahrene »Sucher« Tabor Süden den Fall übernehmen. Nötig hätte er den Auftrag, denn der Mann ist reichlich abgebrannt. Seit Wochen läuft er Tag für Tag »ziellos, schwerfällig, nutzlos« durch Münchens Straßen, bis er in einem seiner Stammlokale vom Typ »Katerschmiede« innehält, um das harte Elend seines Daseins mit nicht minder harten Gegenmitteln zu betäuben. Wie der vermisste Justus Greve ist auch sein Sucher 55 Jahre alt, kann jedoch anders als jener keinerlei Erfolge bei Frauen verbuchen. Ehe-, kinder-, beziehungs- und gänzlich affärenlos leidet er unter seiner Einsamkeit.
Früher hatte Tabor Süden einmal ein sicheres Auskommen als Polizeibeamter in Köln. Da ging er mit seinem Kollegen und einzigen Freund Martin Heuer auf Streife. Dann schlug er Martin vor, gemeinsam nach München zu ziehen, wo der Aufstieg in den gehobenen Dienst lockte. Obwohl es Martin weder in höhere Einkommensgruppen noch nach Süden zog (ihn hätte das pulsierende Berlin gereizt), ließ er sich überreden. Glück brachte die Entscheidung keinem von beiden. Martin Heuer beging Selbstmord, und Tabor Süden trägt seither schwer an der Mitschuld, die er sich daran zuschreibt.
So wie der neue Auftrag Tabor Süden vielleicht für einige Zeit aus seiner nie enden wollenden Sinnkrise herausziehen mag, könnte er auch zum rettenden Anker für das sinkende Schiff der unscheinbaren Privatdetektei werden. Wenn die Eigentümerin den Laden wie beabsichtigt endgültig schließt, müssten sich auch die beiden Mitarbeiter Patrizia Roos und Tabor Süden nach neuen Jobs umsehen.
Die kleine Firma ist gleich in mehrfacher Hinsicht ausgebrannt. Im wörtlichen Sinne: Neonazis haben das Büro überfallen, in Brand gesteckt und völlig zerstört. Ausstattungsmäßig und perspektivisch: Der Vermieter weigert sich, das Büro umgehend wieder in Stand zu setzen. Erst will er das Geld von der Versicherung sehen. Emotional: Bei dem Brand kam Teamkollege Leonhard Kreutzer ums Leben. Das war der letzte Schicksalsschlag, um der seit Jahren seelisch angeknacksten Truppe den Boden zu entziehen. Zehn Jahre zuvor war Edith Liebergesells kleiner Sohn Ingmar von Kriminellen aus der rechtsradikalen Szene entführt und ermordet worden. Die Polizei aber spielte den Fall herunter und ließ die Opfer allein in ihrem Schmerz.
Wie bei den zahlreichen Vorgängerromanen der Serie ist der eigentliche Krimiplot, die Recherche nach Justus Greves Verbleib, über lange Zeit eher nebensächliches Geplänkel. Tabor Süden sucht alle Bekannten und Verwandten im Umfeld des Vermissten auf. Seine wortkarge Verhörtechnik mit schlicht in den Raum gestellten Vermutungen, die zurückhaltende Zeugen in ein Gespräch locken sollen, ist ein Markenzeichen für Friedrich Anis gebrochenen Protagonisten und Ich-Erzähler.
Neben dem Verbleib Greves erkundet der »Sucher« vor allem die menschliche Seele, insbesondere seine eigene. All die vielen Verschwundenen, Verlorenen und Toten in seinem Leben (nicht einmal seinen Vater hat er jemals gefunden) sind ihm näher als die Lebenden. Leitmotivisch bewegt er sich im Schattenreich seiner Erinnerungen, träumt wie ein Kind, schließt die Augen, »damit die Welt verschwände, und wenn ich sie wieder öffnete, wäre ich auf einem Planeten ohne Friedhöfe und ausgedörrte Zimmer«.
Während der Autor sich kräftig ins Zeug legt, um seine Sozialkritik an Münchner Gentrifizierungsverhältnissen an den Mann zu bringen – Verknappung des bezahlbaren Wohnraums, lieber Leerstand als Reduzierung des Mietniveaus, Boom der Luxusimmobilien; Leidtragende sind sozial schwache Familien mit Kindern, Profiteure die Spekulanten und Investoren –, führt Tabor seinen Suchauftrag ziemlich unmotiviert aus. Lockte ihn nicht der dringend benötigte schnöde Mammon, würde er sich wohl ganz dem Wehklagen hingeben.
Tabors Befragungen fördern letztendlich nichts Brauchbares zutage, zumal er allenthalben belogen wird. Als er schon keinen Sinn mehr darin sieht, in der Sache Greve überhaupt weiter zu ermitteln, gelingt es dem Autor am Ende doch noch, die Spannungskurve etwas ansteigen zu lassen. Über gut zwanzig Seiten erfahren wir unerwartete Einzelheiten über ein konkretes Verbrechen. Zwar steckt dahinter ein nicht gerade originelles Konzept, doch immerhin verdient sich das Buch hier gerade noch seine Genreeinordnung als Kriminalroman.
In inzwischen bereits zwanzig Variationen hat Friedrich Ani von seinem Protagonisten Tabor Süden erzählt. Jetzt scheint auch ein so talentierter, mit vielen Preisen ausgezeichneter Autor wie dieser ausgebrannt zu sein, und ein Ende der Serie kommt in Sicht. Selbst manch treuer Stammleser könnte des ewig gleichen Konzepts um den chronisch depressiven und »bebierten« Kommissar langsam überdrüssig werden.