Die Leid tragen
Bis zum Schluss bleiben die Täter namenlos, inhaftiert in einem ebenfalls namenlosen Hochsicherheitsgefängnis. Die die Folgen zu tragen haben, die indirekt Betroffenen, rücken in Francesca Melandris Roman „Über Meereshöhe“ ins Rampenlicht. Sie erhalten Namen: Luisa, Paolo und Nitti. Das sind die Protagonisten in einer winzigen Handlung, die sich in einem Zeitfenster von zwei Tagen zuträgt und mit wenigen weiteren Figuren auskommt.
Luisa ist die Ehefrau eines Mörders, Paolo ist der Vater eines Mörders, und Nitti, ein Strafvollzugsbeamter, bewacht Mörder.
Wäre der Maestrale, der Wind aus Nordwest, nicht so stark gewesen, so hätten die drei sich wahrscheinlich nie kennengelernt, einander nicht einmal wahrgenommen. Aber der Sturm fügt den Zufall, zwingt die drei Personen zusammen ins Notquartier, das Gästehaus auf einer Insel im Mittelmeer in Sichtweite zum ligurischen Festland. Die wenigen Stunden der Gemeinsamkeit sind der dramaturgische Höhepunkt des Geschehens um Menschen, die verletzt sind, das Interesse am Leben verloren haben, deren Charakter zerstört ist: Wenige Gesten, wenige Worte genügen als Bereicherung, als Quelle, aus der sie wieder Kraft schöpfen können, um mit neuer Hoffnung wieder auseinander zu gehen.
Luisa ist eine Bäuerin einfachen Gemüts. Ihr Mann fehlt ihr beim Traktorfahren und bei der Versorgung ihrer 37 Kühe. All die Arbeit so allein zu stemmen ist hart für sie, aber sie empfindet doch Glück in ihrem Schicksal. Denn sie kann ihre fünf Kinder ernähren, und vor allem muss sie keine Angst mehr haben vor dem Mann, der neben ihr im Bett lag. Dass der gewalttätig war, hat sie der Polizei nie verraten. Aber sie hat ihn auch nie richtig verstanden, nie erfasst, wie er war, nie geahnt, dass er jemanden mit seiner Hände Kraft umgebracht hat. Seit zehn Jahren besucht sie ihn im Gefängnis. Jetzt ist er in das Hochsicherheitsgefängnis verlegt worden. Dadurch hat sie zwar eine wesentlich weitere Reise vor sich; glücklich ist sie aber dennoch, denn zum ersten Mal in ihrem Leben sieht sie das Meer. Die Schaumkronen, die wechselnden Farben, die Bewegung - Luisa genießt die Überfahrt auf der Fähre in vollen Zügen.
Paolo ist ein Kopfmensch. Der frühere Lehrer für Geschichte und Philosophie hasst die Fahrt übers Meer, verabscheut die Natur. Menschen auf einer paradiesischen Insel hinter Mauern einzukerkern, das findet er absurd. Schon zum vierten Mal ist er jetzt auf dem Weg zu seinem Sohn. Bei dessen Erziehung ließ er sich von humanistischen Zielen leiten: Die Welt ist voller Ungerechtigkeit, aber wenn man dagegen ankämpft, kann auch der Einzelne etwas bewirken. Trägt Paolo also Mitschuld daran, dass sein Sohn zum Terroristen wurde und Menschen ermordete, um die Behebung sozialer Missstände zu erzwingen?
Nicht nur als Vater, sondern als gesamter Mensch ist Paolo gebrochen. Die tiefen Seufzer aus seinem Innersten können ihm nicht mehr helfen zu vergessen. Er trägt ein Foto von Angelina bei sich, der dreijährigen Tochter des Mannes, den sein Sohn mit einem Kopfschuss hingerichtet hat. „Ihr Sohn lebt noch. Meiner nicht.“ - wie soll er mit diesem Vorwurf, den er damals beim Gerichtsprozess in den Augen der Mutter des Getöteten gelesen hat, jemals fertig werden?
Welchen Sinn hat es da eigentlich, noch weiter zu leben? Seit Paolos Frau Emilia kurz nach der Inhaftierung des Sohnes verstarb, ist er allein. Sein Sohn ist bis heute nicht geläutert; auch im Gefängnis, insistiert er, müsse der Kampf weitergehen - „für die Revolution“.
Nitti versieht seinen Dienst als Strafvollzugsbeamter schon seit Jahren. Unter dem früheren Direktor hatte er es noch gut, und die Arbeit mit Pädophilen war leicht. Das sind einsame Menschen, da gibt es keine anderen Bandenmitglieder und keinen Ärger mit der Mafia. Doch jetzt muss er sich mit Schwerstkriminellen und politischen Gefangenen herumschlagen. Selbst ihn, den Mann mit dem Engelsgesicht, hat das verhärtet. Früher fühlte er sich immer zum verheißungsvoll in der Dunkelheit strahlenden Festland hingezogen; jetzt sind seine Gefühle abgestorben. Die Gewalt, die ihm entgegen gebracht wird, beantwortet er mit Gewalt; er ist der „Schließer“, der „Arbeiter im Lager für Menschenfleisch“, der „Büttel des Systems“. Über sich und seine Taten kann er auch nicht mehr sprechen. Wie würde Maria, seine Frau, über ihn denken? Sie ahnt dergleichen - und fürchtet sich vor der Wahrheit. Erst Luisas schlichter Abschiedssatz, ehe sie auf die Fähre steigt, gibt Nitti etwas von seinem verschütteten wahren Kern zurück: „Sagen Sie das doch Ihrer Frau. Dass sie vor Ihnen keine Angst haben muss.“
Francesca Melandris neuer Roman „Più alto del mare“ ist ein emotional aufwühlendes und sehr poetisches Stück Literatur. Mit ungekünstelter, einfacher, aber gepflegter Sprache weiß sie passende Bilder und ungewöhnliche Vergleiche einzusetzen, um nachhaltige Eindrücke zu erschaffen. Sie dringen akustisch und optisch intensiv in unsere Sinne und bereichern unsere Vorstellungswelt: „Als sie das Haus verließ, war der Himmel immer noch schwarz, und kein Hahn krähte, nicht einmal der ungeduldige vom Nachbarhof, der den Sonnenaufgang immer mindestens eine Stunde zu früh verkündete.“ Geschichten aus dem Gefängnis „trieften [von Leid] wie vergammeltes Fleisch von fauligem Saft“. Aus den Nasenlöchern eines angeketteten Häftlings rannen, „wie zwei Girlanden, schleimige Blutfäden [...]. Er starrte Paolo mit weit aufgerissenen Augen an wie ein Opfertier.“ Die gelungene Übersetzung hat Bruno Genzler erarbeitet.
Die Autorin lässt ihre fiktionale Geschichte nicht frei in ahistorischem Raume schweben. Sie knüpft vielmehr an die politischen Unruhen gegen Ende der 1970er Jahre an. Damals trugen weite Kreise der italienischen Bevölkerung eine breite Protestbewegung gegen das als höchst unbefriedigend empfundene Staatssystem. Daraus erwuchs auch eine radikale Spitze von linkem und rechtem Terrorismus. Vor allem die blutigen Aktionen der Brigate Rosse („Rote Brigaden“) und ihrer Gegner im Extrem sorgten dafür, dass jene anni di piombo („bleierne Jahre“) im öffentlichen Gedächtnis Italiens verblieben. Francesca Melandri hat mit Zeitzeugen - Strafvollzugsbeamten, Terroristen, Häftlingen, Richtern und Angehörigen der Opfer politischer Gewalttaten - gesprochen, um ihrem neuen Roman konkreten Zeitbezug zu geben.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2012/2013 aufgenommen.