Sympathie für den Teufel
Lionel Lupus Savage weiß, was für ein toller Hecht er ist. Er ist jung, sieht blendend aus, ist höchst kultiviert, lebt auf großem Fuß in seinem Haus am feinen Londoner Pocklington Place, und er ist ein begnadeter Dichter, dem auch anerkannte Kollegen nicht das Wasser reichen können .
Nicht alles, was er von sich glaubt, besteht freilich den Faktencheck. In Londons Adelskreisen macht man keinen Hehl daraus, was man von seiner Lyrik hält: Man könne sie erst genießen, »nachdem sie im Feuer verfeinert wurde«. Solche Boshaftigkeiten bekommt der Poet zwar mit, aber sie fechten ihn nicht an.
Des Dichters treu ergebener Gefährte ist sein grauhaariger Butler Simmons. Doch auch der kann die Realität nicht besser machen, als sie ist. Als sein Herr aus einer romantischen Laune heraus die Absicht äußert, ein Boot zu kaufen, bringt Simmons ihm dezent die bittere Wahrheit nahe: »Wir waren verarmt.«
Das »Schicksal der oberen Stände in dieser modernen Zeit« lässt nicht nur den Bootswunsch zerplatzen, sondern zwingt Savage gar, über Geldverdienen nachzudenken. Handwerk, Medizin oder Juristerei sind freilich undenkbar für einen Gentleman; die bloße Vorstellung dieser Berufe (und ihrer Vertreter) verursacht ihm körperliches Unwohlsein. Als einzig gangbarer, wenn auch lästiger Ausweg aus dem finanziellen Jammertal verbleibt die Verehelichung mit einer Dame der besten (will heißen: vermögendsten) Londoner Kreise. Und so zieht bald die frisch angetraute Vivien am Pocklington Place ein.
Erfüllte Savage die Zeit des Werbens noch mit Wohlgefühl, tritt nach der Heirat rasch Ernüchterung ein. Die ein Jahr jüngere Vivien entpuppt sich als geistloses, verzagtes, nörglerisches Geschöpf, für welches Lionel nur Hass und Verachtung aufbringen kann. Als zum zwischenmenschlichen Übel die Qual einer Schreibblockade tritt, packt Savage die Verzweiflung. Nur der Tod kann ihn erlösen. Doch wie?
Simmons kann Savage vertrauensvoll in sein Vorhaben einweihen. Der Butler bewahrt irgendwo eine alte Flinte auf, die für einen schlichten Kopfschuss gut genug wäre. Doch bei allem Wohlwollen und Verständnis für die Seelenpein seines Arbeitgebers scheut Simmons die ihm obliegenden Reinigungsaufgaben nach dem tödlichen Vollzug. Savage entgehen die winzigen Anzeichen von Gequältsein in der ansonsten immergleichen ausdruckslosen Sprache und Mimik seines langjährig Vertrauten nicht. Er entschuldigt sich und gesteht, dass er noch nie im Leben darüber nachgedacht habe, »was wohl in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht«. Als reinlichere Alternative schlägt der Diener den Tod durch Ertrinken vor.
Mit Witz, süffisanter Ironie und Lust am Klischee nimmt der erst 27 Jahre alte amerikanische Autor Forrest Leo typische Figuren der Londoner Oberschicht im viktorianischen Zeitalter aufs Korn, ohne sie lächerlich zu machen. Ursprünglich hatte er seinen Roman als komödiantisches Theaterstück konzipiert. Die Theatralik verspürt man auch noch in der kurzweiligen Prosa. Eine Figur nach der anderen betritt die Bühne, bunte Kulissen wechseln, mitreißende Dialoge beleben ein festliches Dinner, abenteuerliche Duelle werden ausgefochten, und im Rahmen der malenden Kunst ist sogar Nacktheit zulässig.
Der aparteste und amüsanteste Charakter in diesem Kammerspiel ist Savages Schwester Lizzie, ein frühreifer Freigeist. Um die engen Konventionen im »Zeitalter der Sittlichkeit« hat sich der lebenslustige Springinsfeld noch nie nicht geschert. Im Internat hatte sie (mit sechzehn) ein Techtelmechtel mit dem Sohn des Direktors (und wurde prompt gefeuert). Sie kennt auch keine Hemmungen, ihren Bruder nach seiner vertrackten Beziehung zu Vivien zu befragen (»Hat es mit dem körperlichen Akt der Liebe zu tun?«).
Weitere reizvolle Figuren sind ein Erfinder, der Flugmaschinen baut und als umstürzlerischer Anarchist von den argwöhnischen Augen der königlichen Polizei verfolgt wird, und ein Abenteurer, der sich nach der Rückkehr von seinen Weltreisen bei Savage und Lizzie einquartiert und viel zu erzählen weiß. Ganz im Hintergrund hält sich Mr Hubert Lancaster, ein weitläufiger Verwandter und Herausgeber von Savages Werk. Seine zahlreichen Fußnoten kommentieren zurückhaltend, aber unmissverständlich und oft entlarvend, was der Verfasser an Ereignissen, Weisheiten, Behauptungen und Borniertheiten niedergeschrieben hat.
Die ungewöhnlichste Person aber ist kein Geringerer als der Teufel. Wie es sich gehört, entsteigt er der Unterwelt – konkret: der Underground-Station Essex Grove –, jedoch mitnichten, um Savage seine Seele abzuluchsen. So gern sich der arme Poet leibhaftig aus dem Erdenrund verabschieden würde, und wenn es in die Hölle gehen müsste, so fern liegt dem Beelzebub diese Absicht. Denn Seelen hat er schon mehr als genug. Immer missverstehen ihn die Menschen als Bösewicht, dabei ist er ein melancholischer Feingeist, Bücherliebhaber und Literaturkenner mit einem Faible für Dante Alighieri (der sich übrigens bei ihm zu Hause um den Garten kümmert). Der »Fürst der Finsternis« sucht kein Opfer, sondern einen Freund, und dazu hat er sich Lionel Lupus Savage ausgesucht.
Es versteht sich, dass Luzifer, der wahre Gentleman, im weiteren Verlauf der Handlung für ordentlichen Wirbel im Hause Savage sorgen wird, ganz wie man es von einer guten Boulevard-Komödie erwarten darf. So liest man Forrest Leos »The Gentleman« (in der Übersetzung von Cornelius Reiber) als charmanten, vergnüglichen Unterhaltungsroman und fühlt sich dabei manchmal ganz wie bei einem entspannenden Theaterabend.