»Der Wahn allein war Herr in diesem Lande«
In seiner Suite im Berliner Hotel Adlon erwartet Hans Meyer, 85 Jahre alt, einen Journalisten vom "Corriere della Sera". Fabrizio Collini hat sich angekündigt, um ihn zu interviewen.
Meyer hört das Klopfen an der Tür, er bittet Collini herein, und zwanzig Minuten später ist er tot: Collini hat ihm vier Kugeln durch den Kopf gejagt. Der bittet unten in der Lobby darum, die Polizei zu rufen, und lässt sich widerstandslos festnehmen.
Für das Eilverfahren des Amtsgerichts muss der Ermittlungsrichter einen Pflichtverteidiger besorgen; gemäß Liste des Wochenend-Notdienstes übernimmt der noch unerfahrene Anwalt Caspar Leinen die Aufgabe. Beim ersten Gespräch mit seinem neuen Mandanten gesteht Collini den Mord an Hans Meyer, will aber nicht über sein Tatmotiv sprechen.
Bis zu der Tat war Collini ein völlig unbescholtener Mann. Als Journalist hat er sich nur für diesen einen Anlass ausgegeben. Er gehörte zur ersten Generation italienischer Gastarbeiter und arbeitete als Werkzeugmacher bei Daimler, bis er vor vier Monaten in den Ruhestand ging.
Hans Meyer gehörte zu den reichsten Männern Deutschlands. Die von seinem Großvater 1886 gegründeten Maschinenbau-Werke hat er zu einem Weltunternehmen ausgebaut. Als Träger des Bundesverdienstkreuzes genoss er hohes Ansehen.
Am Tag nach Collinis Festnahme erhält Caspar Leinen den Anruf einer guten Freundin: Johanna, Hans Meyers Enkelin und einzige noch lebende Verwandte. "Warum verteidigst Du dieses Schwein?", fragt sie. Caspar erinnert sich an seinen besten Freund und Klassenkameraden Philipp Meyer. Bis zum Abitur verbrachte Caspar alle Ferien lieber im Haushalt der superreichen Familie Meyer als bei seinem alleinstehenden Vater, einem verknöcherten Förster. Hans Meyer ging mit den Jungen angeln, spielte Schach mit Caspar.
Caspar ist also befangen, will sein Mandat abgeben, aber Professor Dr. Richard Mattinger, sein ehemaliger Mentor und Vertreter der Nebenklägerin Johanna, rät ihm ab: "Na und? Im nächsten Verfahren ist es dieses oder jenes ... Sie wollen Verteidiger sein, also müssen Sie sich auch wie einer benehmen." (S. 53)
Nach sechs Monaten sind weder die Ermittler noch Caspar Leinen einen Schritt voran gekommen. Als der Prozess beginnt, ist allen klar, dass Collini zweifelsfrei schuldig gesprochen werden wird.
Warum konzentriert sich Leinens Blick erst jetzt auf das Foto der Tatwaffe, einer Walther P38?
Nicht nur Leinen fällt es wie Schuppen von den Augen, sondern auch jeder Leser ahnt, was er nun lesen wird: Die Verbrechen der Nazis an unendlich vielen unschuldigen Menschen holen uns wieder einmal ein. Meyer war SS-Sturmbannführer und hatte Erschießungen an Partisanen veranlasst.
Genau wie seine Figur Caspar Leinen ist Ferdinand von Schirach Strafverteidiger in Berlin; wie seine Protagonistin Johanna hat er einen Großvater, der an NS-Verbrechen beteiligt war (und dafür in Nürnberg verurteilt wurde). Als autobiographischen Roman oder private Vergangenheitsbewältigung mag ich den "Fall Collini" trotzdem nicht auffassen; dazu sind die Parallelen denn doch zu dünn, die Episoden zu unterschiedlich.
Von Schirach referiert das Ermittlungsverfahren und den Prozessverlauf um die Rachetat eines Italieners gewohnt akribisch und aus sachlicher Distanz, gewahrt durch nüchterne Sprache, logische Stringenz und juristische Faktizität. Unkommentiert zitiert der Autor im Anhang die Ergänzung des § 50 StGB vom 1.10.1968, die die Strafbarkeit beteiligter Einzeltäter an Gemeinschaftsverbrechen wie denen der Nationalsozialisten mildern kann.
Dieser emotionslosen Zurückhaltung – und der Ernsthaftigkeit der eigentlichen Thematik – hätte es allerdings konsequenter entsprochen, wenn der Autor auf das Liebesgeplänkel zwischen Johanna und Caspar während der Prozesszeit verzichtet hätte.